Fenster zur Fuggerei: Wann ein Obolus für den Nachtwächter fällig wird
Um 22 Uhr werden die Ein- und Ausgänge in der Fuggerei geschlossen. Dann beginnt für Nachtwächter Andreas Tervooren eine Zeit des Wartens. Keine Nacht ist wie die andere.
Sein Dienst beginnt stets mit derselben Aufgabe. Zuerst sperrt Andreas Tervooren das Haupttor der Fuggerei ab. Der Nachtwächter ist schon von Weitem erkennbar – der Schein seiner Taschenlampe begleitet ihn bei seinem Rundgang durch die Siedlung. Während sich sein Arbeitsalltag anfangs immer ähnelt, kann er den weiteren Verlauf nicht vorhersehen: Klingelt noch jemand an der Nachtglocke oder nicht? Das ist von Nacht zu Nacht verschieden. Es ist ein Dienst, der einem Warten abverlangt. Auch das will gelernt sein.
Rund 150 bedürftige Augsburger wohnen in der Fuggerei. Freilich hat jeder von ihnen seine eigene Haustür, die er abschließen kann, um sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Die Siedlung, die es seit dem Jahr 1521 gibt, wird aber noch zusätzlich gesichert – eine alte Tradition. Seit wann es die Torwache beziehungsweise den Nachtwächter gibt, ist in den Schriften der Fuggerei nicht überliefert. Seit jeher wurden aber nachts die Tore der Fuggerei verschlossen. Im Fuggerei-Buch steht: "1855 etwa, als sich Lorenz Huber gegen zwei Mitbewerber den Torwärterdienst sichern konnte, blieb für Bewohner, die noch spät unterwegs waren nur das Tor in der Saugasse passierbar, während Fremde der Zutritt verwehrt wurde." Diese Tradition lebt mit einigen Lockerungen bis heute fort. Der Dienst des Nachtwächters wird aber inzwischen über die Ochsengasse verrichtet.
Insgesamt gibt es in der Fuggerei sechs Tore – nicht alle sind geöffnet. Nachdem der Nachtwächter das Haupttor abgeschlossen hat – Gäste des Lokals Tafeldecker können über eine Tür des Restaurants auf die Jakoberstraße gelangen – begibt er sich zu einer Tür, von wo aus die Bewohner der Fuggerei in den Sparrenlech gelangen können. Auch dort wird der Riegel vorgeschoben. Von diesem Moment ab führt in der Nacht für die Bewohner nur noch ein Weg in die Fuggerei und aus der Siedlung heraus – sie müssen das Tor, das Sparrenlech und die Ochsengasse verbindet, passieren. An dem Eingang befindet sich auch die Nachtwächterstube, ein kleiner Raum mit einem Bett, einem kleinen Tisch, Stuhl, einem Schrank und Ofen und einem kleinen Badezimmer.
Sonderregelungen für Schichtarbeiter und Notfälle in Augsburgs Fuggerei
Andreas Tervooren teilt sich den Dienst mit drei weiteren Kollegen. Er kommt einmal monatlich an die Reihe und arbeitet dann sieben Nächte am Stück. Seit 2017 wohnt er mit Frau und Hund in der Fuggerei. Der 47-Jährige hat den Job während der Corona-Pandemie übernommen. "Damals hat jemand aufgehört", erzählt er. An der Wand hängt ein größerer Bildschirm. Es ist kein Fernseher. Dort kann er über eine Kamera sehen, wer an der Nachtglocke klingelt. Doch es ist schon fast eine Dreiviertelstunde vorbei. Es hat noch niemand um Einlass gebeten, keiner wollte die Fuggerei verlassen. Kurz vor 22 Uhr sind noch ein paar Bewohner in ihre Siedlung zurückgekehrt – wer hinein oder heraus will, nachdem die Tore geschlossen wurden, muss bis 24 Uhr 50 Cent zahlen, ab Mitternacht wird ein Euro fällig. "Bewohner, die im Schichtdienst arbeiten und deshalb später kommen oder gehen, müssen nicht bezahlen." Und auch für Notärzte und Krankenwagen und Feuerwehr gebe es eine Sonderregelung: Aufgrund der Größe der Fahrzeuge wird für sie das Tor zur Finsteren Gasse geöffnet – kein anderes Tor ist ansonsten groß genug. Doch das sind Vorkehrungen für den Notfall, die glücklicherweise selten passieren.
Der Alltag der Nachtwächter ist unterschiedlich: Manchmal klingelt überhaupt niemand. Das passiere oft montags oder dienstags. Da blieben die meisten Leute zu Hause, aber verallgemeinern könne man es nicht. An diesem Freitagabend, ein eigentlich belebter Abend, ist vergleichsweise wenig los. Es sind Schulferien, es ist Regen angesagt. Das kann dann auch bedeuten, dass es ruhig bleibt. Andreas Tervooren holt aus seinem Rucksack einen DVD-Player samt kleinen Bildschirm heraus. Später will er sich noch die eine oder andere Folge der Serie "Vikings" ansehen, die die Geschichte des Wikingers Ragnar Lothbrok und seines Clans erzählt. Doch es klingelt, kurz vor 23 Uhr kommen Raphael, 18, und seine Freundin Angelina, 17, vom Plärrer zurück. Sie betätigen die Klingel, Andreas Tervooren entriegelt das Tor elektrisch und öffnet das Fenster zu seiner Nachtwächterstube. Dort zahlen sie ihre Gebühr. Seit er vier Jahre alt ist, wohnt Raphael mit seiner Familie in der Fuggerei. Dass sie nachts ihre Tore schließt, findet er gut. "So kommt nicht jeder rein." Dass ein kleiner Obolus fällig wird, findet er nicht weiter schlimm. Gerade an den Wochenenden komme es vor, dass er nach 22 Uhr nach Hause kommt und einen Stopp beim Nachtwächter einlegen muss.
Nachtwächter kennt Bewohner der Fuggerei gut
Andreas Tervooren kennt die Bewohner der Fuggerei. Als Unterstützung liegt vor ihm aber noch eine Bewohnerliste auf dem Tisch. Besucher müssten von den Bewohnern am Tor abgeholt beziehungsweise dorthin gebracht werden. Das Geld, das Raphael und Angelina bezahlt haben, legt der Nachtwächter in eine alte Pralinenschachtel, die offen auf dem Tisch liegt. 20 bis 25 Euro, schätzt er, sind in dieser Woche bislang zusammen gekommen. Am Ende dürfe er das Geld, das während den sieben Nächten zusammengekommen ist, behalten. Manchmal gebe es auch ein kleines Trinkgeld. Wann wer nach Hause gekommen ist, dokumentiert der 47-Jährige nicht, aber es sind in der Regel immer dieselben Personen, die den Zuschlag zahlen müssten.
Nachdem die beiden Nachtschwärmer in die Fuggerei zurückgekehrt sind, ist es wieder ruhig. Andreas Tervooren darf sich während seines Dienstes auch hinlegen und schlafen. Das macht er zu fortgeschrittener Stunde auch – besonders gut schläft er aber nie. Schließlich weiß er, dass er jeden Moment wieder durch die Klingel aufgeschreckt werden könnte. Gegen 4.15 Uhr ist sein Dienst vorbei. Dann wird die Tür zum Sparrenlech wieder aufgesperrt, das Haupttor geöffnet. "Dann kommt der Zeitungsausträger und dreht seine Runde durch die Fuggerei", sagt er. Andreas Tervooren geht dann nach Hause und legt sich erst noch einmal hin.
In unserer Serie "Augsburg bei Nacht" berichten wir über Menschen, die die Nacht in Augsburg zum Tag machen – weil sie arbeiten, wenn andere schlafen, oder weil sie unterwegs sind, um zu feiern. Denn auch Augsburg ist eine Stadt, die niemals so richtig schläft …
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