Historiker Hans Mommsen wird 85 Jahre alt
Geschichtsforscher Hans Mommsen widmete sich hauptsächlich dem NS-Regime. Er deckte einige unbequeme Wahrheiten auf. Eine aktuelle Entwicklung sah er allerdings nicht kommen.
Der Historiker Hans Mommsen hat den Deutschen viele unbequeme Wahrheiten aufgetischt. Jetzt wird der streitbare Gelehrte, der sich vor allem mit dem NS-Unrechtsstaat und dem Holocaust beschäftigte, 85 Jahre alt.
Das, was Hans Mommsen, der große deutsche Historiker, vor nicht allzu langer Zeit in einem Zeitungsinterview sagte, ist aus heutiger Sicht brandaktuell. Damals meinte er in einem Gespräch mit unserer Zeitung die deutsche Einwanderungspolitik sei zu restriktiv. "Was da spukt, ist mir suspekt." Aus wirtschaftlicher Sicht müsse man die Einwanderung "deutlich forcieren". Die Gefahr durch rechtsradikale Parteien hielt er im August 2011 für "gering".
Mommsen als einer der streitbarsten Geschichtsforscher der Nachkriegszeit
Gerne würde man den renommierten Historiker fragen, wie er heute die Flüchtlingskrise bewertet und das Wiedererstarken der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung oder der rechtskonservativen AfD. Doch leider ist Mommsen, der am 5. November in seinem Wohnort Feldafing am Starnberger See seinen 85. Geburtstag begeht, erkrankt. Er könne zur Zeit keine Interviews geben, teilte sein Verlag auf Anfrage mit.
Mommsen kann getrost als einer der wirkungsmächtigsten und streitbarsten Geschichtsforscher der Nachkriegszeit gelten. Sein ganzes Gelehrtenleben hindurch widmete er sich brisanten Themen: Der Geschichte der Weimarer Republik, des NS-Staates, des Holocaust, des deutschen Widerstandes und der Rolle der Wirtschaft im NS-Zwangsarbeitssystem. Er räumte auf mit der These von der überragenden Rolle Adolf Hitlers als großem Volksverführer und lenkte den Blick auf die Strukturen und Apparate der Machtausübung mit zahlreichen Tätern, Helfern, Mitwissern und Mitläufern. Eine unbequeme Sichtweise, weil sie unerbittlich den Blick lenkte auf die Mitverantwortung jedes einzelnen Staatsbürgers.
Urgroßvater forschte über das Römische Reich
Mommsen entstammt einer bedeutenden Historikerdynastie. Er ist Urenkel des legendären Liberalen und Althistorikers Theodor Mommsen, der für seine "Römische Geschichte", bis heute ein Standardwerk, 1902 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein Vater Wilhelm Mommsen lehrte als Ordinarius Geschichte in Marburg, verteidigte zunächst die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, verstrickte sich dann aber ins NS-Unrechtssystem. Dass er nach dem verlorenen Krieg nicht auf seinen Lehrstuhl zurückkehren konnte, prägte die Kindheit Mommsens und seines Zwillingsbruders Wolfgang J. Mommsen, ebenfalls Geschichtsprofessor, der 2004 starb.
Hans Mommsen begann seine wissenschaftliche Laufbahn am Historischen Seminar der Universität Tübingen und landete nach Stationen in München und Heidelberg schließlich an der Bochumer Ruhruniversität, wo er von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1996 als Professor für Neuere Geschichte lehrte. Außerdem war er Gastprofessor und Fellow an bedeutenden Universitäten, etwa in Harvard, Princeton und Oxford.
Beteiligung an politischen Debatten
Doch Mommsen verkroch sich nie im Studierstübchen, sondern beteiligte sich offensiv an politischen Debatten. Im berühmten Historikerstreit positionierte er sich in den 80er Jahren klar gegen die These seines Kollegen Ernst Nolte, der den Holocaust als mögliche Reaktion auf die Verbrechen der Sowjets gedeutet hatte. 1996 erschien seine große Studie über die Verzahnung von Rüstungsindustrie, Zwangsarbeit und Vernichtungsprogrammen am Beispiel des VW-Konzerns. Mit dieser Arbeit legte er auch die Grundlage für die kontroverse Debatte um eine Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, die schließlich in der Einrichtung einer entsprechenden Stiftung mündete.
Sein bislang letztes Buch erschien 2014. Mit dem Titel "Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa" zog er die Bilanz seiner Jahrzehnte langen Holocaust-Forschung. Die Wochenzeitung "Die Zeit" würdigte Mommsen anlässlich seines 80. Geburtstags im Jahre 2010 als "einen der ganz Großen seines Fachs". Er gehöre zu jenen Repräsentanten der langen Generation sozialliberaler Historiker, die in den 1960er Jahren angetreten sei, die westdeutsche Geschichtswissenschaft von verstaubten Traditionen zu befreien. "Er hat das historische Selbstverständnis der Republik im Sinne einer demokratischen Bürgerkultur geprägt wie kein Zweiter." dpa
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