Im Land der unnötigen Operationen
Die Geschäftsführerin der Barmer Ersatzkasse in Bayern übt deutliche Kritik am deutschen Gesundheitssystem. Was aus ihrer Sicht schiefläuft – und welchen Rat sie Patienten gibt
Frau Wöhler, Sie sind Landesgeschäftsführerin der Barmer mit etwa 1,3 Millionen Versicherten in Bayern. Gemeinsam mit Ihren Kollegen aus Baden-Württemberg haben Sie auf der Reisensburg in Günzburg das Erste Länderforum Gesundheit veranstaltet – mit welchem Ziel?
Dieses grenzüberschreitende Projekt ist ein Signal dafür, wie sinnvoll es ist, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Das würde auch den vielen Akteuren im Gesundheitssystem guttun, die zum Teil mit ganz unterschiedlichen Interessen unterwegs sind. Dies käme letztlich auch den Patienten zugute. Und um deren Wohl geht es schließlich.
Erklären Sie das bitte genauer.
In der Behandlung einer komplexen Verletzung oder Erkrankung müssen Patienten das Prozedere oft zwei- oder dreimal über sich ergehen lassen, weil es mit der Kommunikation an den Schnittstellen nicht klappt. Es kommt durchaus vor, dass beispielsweise ein Klinikarzt von den zuvor behandelnden Ärzten keine ausreichenden Informationen über die Art der Verletzung erhält. Die Diagnostik beginnt sozusagen von Neuem. Oder: Röntgenbilder, die vor wenigen Tagen gemacht wurden, reichen dem Facharzt oder Krankenhaus nicht. Häufig wird mit haftungsrechtlichen Gründen argumentiert. Es könnten aber auch betriebswirtschaftliche Motive dahinterstehen.
Die Beteiligten im Gesundheitswesen könnten also bei einer besser verzahnten Vorgehensweise und ohne ständige eigene Vorgartenpflege mit dem Geld auskommen, das im System steckt?
Davon bin ich überzeugt. Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherungen werden 225 Milliarden Euro aufgewendet. Rechne ich die Zuzahlungen der Patienten dazu, liegen wir bereits über 310 Milliarden Euro. Das ist viel Geld für 70 Millionen Versicherte. Es ist also keine Frage der Geldmenge, sondern der Verteilung.
Was passt neben unnötigen Doppelstrukturen noch nicht?
Die Planung für den stationären Bereich, also Klinikbetten, ist Sache der Länder. Der ambulante Bereich wird unabhängig davon von den Kassenärztlichen Vereinigungen geplant. Das Resultat ist, dass es in Ballungszentren in der Regel Überversorgung gibt, während auf dem Land zum Teil Unterversorgung herrscht. Das kommt heraus, wenn die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Wichtig wäre eine Planung aus einer Hand und ein aufeinander abgestimmtes Behandlungskonzept, das Patienten an den Schnittstellen von Hausarzt zu Facharzt und von Facharzt zur Klinik besser mitnimmt.
Wird in Deutschland zu viel operiert?
In Teilen ja. Bereits unser Krankenhaus-Report 2010 hat gezeigt: Weltweiter Spitzenreiter sind die deutschen Kliniken bei künstlichen Hüft- und Kniegelenks-Operationen. Von 2003 bis 2009 ist die Zahl der Hüftgelenk-Implantationen um 18 Prozent gestiegen. Die Zahl der eingesetzten künstlichen Kniegelenke ist sogar um mehr als die Hälfte gewachsen. Dabei ist bei den Hüftgelenken die Zahl der Operationen, die keine altersbedingte Ursache hatten, um neun Prozent gestiegen. Bei den Kniegelenken beträgt die altersbereinigte Zunahme sogar 43 Prozent. Wir haben aber keine Hinweise darauf, dass die Menschen in Deutschland kränker sind als die Menschen anderer Länder. Überwiegend ist die Behandlungsqualität in Deutschland gut. Sie hält allerdings nicht flächendeckend Schritt mit den hohen Kosten. So überlebten im Jahr 2013 hierzulande weit weniger Herzinfarktpatienten, die behandelt wurden, als in vielen anderen EU-Ländern. Die Überlebensrate hing oftmals davon ab, wo die Patienten behandelt wurden.
Was ist wichtig für Patienten vor größeren operativen Eingriffen?
Zuerst sollten die Patienten ihren behandelnden Arzt ausfragen, um alle Informationen zu erhalten. Nur so können sie eine Entscheidung für oder gegen eine Operation treffen. Danach sollten sie sich, vor allem bei planbaren Operationen, eine Zweitmeinung einholen. Seit kurzem ist das Recht auf Zweitmeinung gesetzlich verankert. Es wissen nur zu wenige. Diese zweite Meinung ist oft hilfreich bei der Entscheidung und verhindert unter Umständen unnötige Operationen. Interview: Till Hofmann
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