Dieser eine Moment: Leben nach einem Motorradunfall
Christian Heilander ist querschnittsgelähmt. Wie es dazu kam, ist eine unfassbare Geschichte. Trotzdem sagt er über sein Schicksal: "Hey - ich hatte Glück".
Nachts, wenn er schläft, ist sein Leben das alte. Da flitzt er auf Schlittschuhen übers Eis. Spielt Inline-Hockey, wie damals in der Landesliga. Geht mit seiner Frau spazieren. Oder ist mit den Kindern an der Wertach unterwegs. Da rennen sie um die Wette. Oder tollen durchs Gras. In seinen Träumen ist die Welt immer heil. "Ich träume nie, dass ich im Rollstuhl sitze", sagt Christian Heilander. Dabei ist dieses alte Leben schon seit zehn Jahren vorbei. Von einer Sekunde auf die andere – gelöscht.
Ein Motorradunfall. Fünfter und sechster Brustwirbel zertrümmert. Rückenmark durchtrennt. Querschnittslähmung von der Brust abwärts. Aber Christian Heilander sagt: "Hey, ich hatte Glück."
Denn in den Wochen, in denen er in der Unfallklinik in Murnau das Weiterleben lernte, hat er viel schlimmere Fälle gesehen. Dort liegen die abgestürzten Gleitschirmflieger und die verunglückten Bergsteiger, das Überfallopfer, dem ein Messer im Rücken das Knochenmark durchtrennte, oder der Mann, der gerade in Rente gegangen ist und im Garten der Nachbarin beim Kirschenpflücken vom Baum fiel und seither gelähmt ist. Und eben die vielen Biker.
An kaum einem anderen Ort kommt man den Schicksalen der Unfallopfer so nah wie in Murnau, in einer der größten Spezialkliniken Deutschlands. Vor dem Haus blühen weiße Margeriten, dahinter erhebt sich das Alpenpanorama wie ein großformatiges Heimatgemälde. Menschen mit eingegipsten Füßen sitzen unter großen schattenspendenden Bäumen, junge Burschen mit nacktem Oberkörper und tätowierten Armen fahren im Rollstuhl durch den Park, eine Frau mit Halskrause liest auf einem Bänkchen Zeitung. Was sie eint, ist ihr Schicksal. Das Schicksal, dass das Leben nach einem schweren Unfall nie wieder so sein wird wie zuvor.
Fast 10.000 Schwerverletzte pro Jahr - und 600 Tote
14 Motorradfahrer wurden allein in den vergangenen zwei Wochen in die Unfallklinik in Murnau eingeliefert. Neun davon sind schwer verletzt. "Mit dem Start in die Motorradsaison wurde es schlagartig schlimmer", sagt Dr. Thomas Klier, Leitender Oberarzt und Traumatologe. Er und seine Kollegen kümmern sich um Menschen mit schweren Wirbelkörperbrüchen, Beckenverletzungen, offenen Armfrakturen oder lebensgefährlichen Bauchwunden. Klier sitzt in einem großen Büro mit schwarzer Ledercouch und einem Gemälde von Jasper Johns. Durch das geöffnete Fenster blickt man auf den gegenüberliegenden Kliniktrakt, in dem sich ein Patientenzimmer an das nächste reiht. "Das Risiko beim Motorradfahren ist deutlich höher als beim Autofahren. Man hat keine Knautschzone", sagt Klier. Unfälle mit Zweirädern seien aber nicht nur deswegen besonders gefährlich. Das Tückische ist: Weil die schwere Motorradkluft wie ein Korsett wirkt und den Körper zusammenpresst, sieht man auf den ersten Blick oft nicht, wie gravierend die Verletzungen wirklich sind. Komplikationen wie lebensgefährliche innere Blutungen können erst viel später, manchmal sogar erst nach zwei Wochen auftreten.
Als Klier gerade erzählt, von zertrümmerten Armen und Beinen, von lebensgefährlichen Schädelverletzungen und Full-Body-Scans, Ganzkörperaufnahmen, die den Körper in 5000 Bilder zerlegen, wird etwa 90 Kilometer weiter die Kreisstraße 14 bei Kempten gesperrt. Ein 51 Jahre alter Mann ist mit seinem Motorrad auf die Gegenfahrbahn geraten und mit einem Auto zusammengestoßen. Noch am Unfallort stirbt er. Und die traurige Zahl derer, die einen Motorradunfall nicht überleben, wird in diesem Moment wieder nach oben korrigiert. Jedes Jahr berechnet die Unfallforschung der Versicherer diese Statistik. Die traurige Bilanz lautet: Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 639 Motorradfahrer und -mitfahrer getötet sowie 9986 schwer verletzt. Daten aus dem Jahr 2016 liegen noch nicht vor.
Auch Christian Heilander ist Teil einer solchen Statistik. Einer von tausenden Menschen, deren Leben sich von einem Moment auf den anderen änderte. Dazu noch einer, der lange gezögert hatte, bis er den Motorradführerschein machte. Weil er das Gefühl hatte, dass er einer der Kandidaten sein könnte, die es erwischt, sagt der 43-Jährige.
Heilander arbeitet bei der Mediengruppe Pressedruck in der Zeitungsplattenherstellung. In dem Augsburger Unternehmen erscheint auch unsere Zeitung. Seit 25 Jahren ist er nun in der Abteilung, unterbrochen nur durch den Zivildienst. Da hat er rund um die Uhr einen querschnittsgelähmten Motorradfahrer betreut. "Einen jungen Kerl, vom Hals abwärts gelähmt." Und wieder sagt Heilander: "Den hat es viel schlimmer erwischt als mich."
An Weihnachten 2006 bekommt er den Motorradführerschein geschenkt. Damit er mit dem Schwager auf Tour gehen kann. Nach wenigen Fahrstunden hat er ihn in der Tasche. "Ich war kein Raser", erzählt Christian Heilander. Immer gemütlich unterwegs. Und immer mit Rückenprotektor.
Querschnittspatienten bleiben sechs Monate in der Klinik
Außer in jener Nacht vom 14. auf den 15. August 2007. Er ist in der Arbeit. Eigentlich soll er bis 22 Uhr bleiben, aber weil sie früher fertig sind, schickt ihn der Chef heim. Es ist ein wunderbarer Sommerabend, die Luft lau, Sterne am Himmel. Mit seiner 500er-Suzuki fährt er langsam durch die Stadt, Richtung Göggingen im Augsburger Süden, deshalb hat er auch den Rückenschutz nicht angelegt. Als er zu Hause ankommt, sieht er Licht im Wohnzimmer, hält aber nicht an, weil er noch eine kleine Runde drehen will. Mit 30 Sachen zuckelt er einem Auto hinterher. Am Ortsausgang überholt er. Dann ist da dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem er nicht mehr reagieren kann. "Ich sehe noch, dass die Kurve nach links geht." Aber er fährt geradeaus und schießt einen kleinen Abhang hinunter, die Maschine überschlägt sich.
Heilander knallt mit dem Rücken auf die kleine Aufschüttung neben einem Bach. "Das war einfach Pech", sagt er. Er liegt halb im Wasser. Als er sich an seine toten Beine fasst, ist ihm sofort klar, was los ist.
Vom Augsburger Zentralklinikum wird er nach Murnau verlegt, wo ihm der Sozialarbeiter sagt: "Du wirst wieder arbeiten." Zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht einmal den Kopf selbstständig heben kann. Und keine Ahnung hat, wie es überhaupt weitergehen kann: mit dem Job, mit der Altbauwohnung im dritten Stock ohne Aufzug, mit der Familie. Seine Kinder Carina und Fabian sind damals gerade drei und ein Jahr alt. "Aber du machst einfach weiter", sagt Christian Heilander, "du hast ja auch keine Wahl."
Querschnittspatienten wie Heilander bleiben etwa sechs Monate in der Murnauer Unfallklinik. Hochquerschnittspatienten, also die, die unterhalb des Halses gar nichts mehr spüren, sind rund neun Monate dort. Sie müssen lernen, weiterzuleben. Und nicht zu verzweifeln. Trotz allem. Die meisten verunglückten Motorradfahrer, die hierher kommen, stehen voll im Leben und sind zwischen 45 und 55 Jahre alt, sagt der Leitende Arzt Dr. Thomas van Bömmel, ein großer Mann mit hoher Stirn und dunkelbrauner Brille. Es sind Menschen, die sich noch einmal einen Traum erfüllen wollen. Den Traum von Freiheit.
Dieser Drang ist bei vielen so groß, dass sie auch nach einem dramatischen Unglück noch einmal auf ihre Maschine steigen. "Ein Patient, der bei einem schweren Unfall ein Bein verloren hatte, stieg trotzdem wieder auf sein Motorrad. Um an der Ampel nicht umzufallen, hat er sich einen Beiwagen an seine Maschine montieren lassen", erzählt van Bömmel. Es dauerte nicht lange, bis der Mann wieder in der Murnauer Unfallklinik landete.
Der Mediziner steht draußen in der Nachmittagssonne, neben dem großen Rettungshubschrauber, der gerade für den Einsatz fertig gemacht wird, um den nächsten Verunglückten zu retten. Auch Intensivpatienten können damit transportiert werden. Dann dreht er sich um und geht zurück zum Klinikgebäude, genau auf dem Weg, auf dem auch die Verletzten in die Notaufnahme gebracht werden. Er läuft einen Flur mit tristem grauem Fußboden entlang, hinein in den großen Schockraum.
Marko G. kann sich an den kompletten Unfall erinnern
Am Vatertag lag hier Marko G. Nach einem schweren Motorradunfall war er nach Murnau geflogen worden. Nun liegt er in einem der vielen Krankenzimmer. Durch das geöffnete Fenster weht ein warmer Wind, die orange-rot gemusterten Vorhänge schaukeln in der Brise. Der linke Arm des 48-jährigen Münchners ist komplett zerstört, ein Finger abgerissen, das Bein gebrochen. Zweimal wurde Marko G. schon am Arm operiert. Um alle Knochen wieder dahin zu bringen, wo sie hingehören, sind aber noch weitere Eingriffe nötig.
An den Tag, der sein Leben veränderte, erinnert er sich noch genau. So, als hätte er jede Sekunde wie einen Film auf einer Festplatte abgespeichert. G. ist mit seiner Maschine, einer KTM LC4 640 Supermoto, unterwegs. Auf einer Wiese am Sylvensteinspeicher macht er Pause. Er zieht die schweren Biker-Boots aus, legt sich ins Gras, blickt in den Himmel und atmet die frische Bergluft ein. Dann fährt er weiter.
In einer Kurve in der Nähe von Lenggries passiert es. Auf der Gegenfahrbahn setzt eine Motorradfahrerin zum Überholen an, kommt zu weit auf die andere Seite und kracht mit Marko G. zusammen. Der wird in den Wald geschleudert, fährt gegen einen Baum und wird unter seinem Motorrad begraben. "Als ich da lag, dachte ich, ich habe einen Schutzengel. Ich war wach und konnte meine Beine bewegen. Aber dann kam der Schmerz."
Marko G. hält kurz inne und blickt nachdenklich aus dem Fenster. "Ich weiß noch alles", fährt er fort. "Bis sie mich aufgrund meiner wahnsinnigen Schmerzen ruhiggestellt haben." Trotz allem würde Marko G. wieder auf sein geliebtes Motorrad steigen. Er glaubt aber nicht, dass sich sein Wunsch erfüllen wird. Sein Arm wird wohl für immer eine Behinderung bleiben. Und Marko G. wird sich irgendwie zurück ins Leben kämpfen müssen.
So wie es Christian Heilander vor zehn Jahren gemacht hat. Damals wird er nach vier Monaten aus der Klinik entlassen – zwei Monate früher, als es bei seiner Art der Querschnittslähmung üblich ist. Die Familie zieht in eine barrierefreie Wohnung, im Unternehmen wird alles so umgebaut, dass Heilander an seinen Arbeitsplatz als Druckformhersteller zurückkehren kann. "Kopf und Arme sind ja in Ordnung", sagt der 43-Jährige. Er kann nur nicht mehr laufen. Und braucht morgens eine Stunde länger als alle anderen – bis er seine Beine einmal durchbewegt hat, damit sie nicht steif werden; bis er sich in den Rollstuhl und auf den Sitz in der Dusche gehievt hat; bis er angezogen ist.
"Das ist halt so", sagt er. Und dass er seiner Frau Sabine unendlich dankbar ist, die vom ersten Tag seines neuen Lebens an zu ihm gehalten hat. Seine Kinder, sagt er, kennen ihn gar nicht anders – und sind immer noch erstaunt, wenn sie ihn auf alten Fotos stehen sehen.
Damals, in seinem alten Leben.
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