Wenn pöbelnde Patienten auf Ärzte und Rettungskräfte losgehen
Sie wollen helfen – und werden angegriffen. Immer öfter kommt es zu Gewalt gegen Ärzte, Pfleger und Sanitäter. Man fragt sich: Wo bleibt eigentlich der Respekt?
Die alte Dame mit dem schütteren grauen Haar stützt sich auf ihren Stock und setzt sich langsam auf einen der Stühle mit dem tintenblauen Stoffbezug. An ihrer Stirn klafft eine blutige Wunde. Ihr Gesicht ist blass, der Blick müde. Neben ihr sitzt ein Ehepaar. Er tätschelt ihr die Hand, in der eine Infusionsnadel steckt. Sie lächelt zaghaft und schaut starr aus dem Fenster mit den rosa-grünen Vorhängen in die Sonne dieses Frühlingstages. Niemand spricht. Alle sitzen einfach da. Und warten. Es ist an diesem Vormittag schwer vorstellbar, dass es hier, in der Notaufnahme des Augsburger Klinikums, auch ganz anders zugehen kann.
Anders heißt: brutal. Unverschämt. Respektlos. Da werden Pfleger beleidigt und Gläser geworfen. Da wird gebissen und gekratzt. Da wird geschrien, gebrüllt und geschimpft. Das Klinikum ist dabei keine Ausnahme. Viele Krankenhäuser kennen das Problem. Das Problem, dass es immer öfter Patienten gibt, die ausrasten. Und es sind längst nicht nur Kliniken betroffen. Sanitäter werden auf der Straße angefeindet, Hausärzte werden in ihrer Praxis und bei Patientenbesuchen beschimpft. Man fragt sich: Woher kommen diese Aggressionen? Wo bleibt der Respekt? Und wie können sich Rettungskräfte schützen?
100 gewalttätige Übergriffe auf das Pflegepersonal
Thomas Händl, Leitender Oberarzt am Klinikum Augsburg, sitzt in einem schmucklosen Raum nur wenige Meter entfernt vom Wartezimmer der Notaufnahme. Er faltet die Hände in seinem Schoß und sagt: „Die Gewalt gegen Autoritäten nimmt zu. Und das, obwohl wir in Deutschland generell einen Rückgang an Gewaltdelikten haben, wenn man sich mal die Kriminalitätsstatistik anschaut.“ Auch er hat es schon erlebt, dass er von Patienten angebrüllt wurde. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein kleiner Zettel. Darauf hat Händl Zahlen notiert. Zahlen, die zeigen, wie groß das Gewaltproblem in der Notaufnahme des Klinikums ist: 100 gewalttätige Übergriffe hat das Pflegepersonal im Jahr 2016 gemeldet. Bei einer Umfrage im Jahr 2017 wurden von den Mitarbeitern insgesamt 18.000 Fälle von verbaler Gewalt angegeben, die sie bisher erlebt haben – wüste Beschimpfungen, Anfeindungen, Beleidigungen. Hinzu kommen 6700 Fälle von brachialer Gewalt, etwa, dass ein Patient – oft betrunken, unter Drogen oder psychisch krank – ein Bett zertritt.
Um einzugreifen, wenn eine Situation zu eskalieren droht, gibt es am Augsburger Klinikum – ebenso wie an vielen anderen Krankenhäusern – einen Sicherheitsdienst. Auch dazu hat Händl Zahlen auf seinen Zettel geschrieben. Zwischen 2010 und 2016 sind die Einsätze des Security-Personals hier in der Notaufnahme von jährlich 1000 auf 2000 angewachsen. Zu einem gewissen Teil hänge das mit der gestiegenen Patientenzahl von 56.000 auf 85.000 zusammen, aber auch mit der Einstellung der Menschen, glaubt der Mediziner. „Man hat den Eindruck, dass es eine gewisse Anspruchshaltung gibt, die natürlich auch berechtigt ist. Aber die Menschen sehen uns immer mehr als Dienstleister.“ Er hält inne und faltet den Zettel mit den Zahlen zusammen. Dann sagt er: „Und man hat den Eindruck, dass die Gesellschaft immer egoistischer wird. Man sieht nur seine eigenen Probleme.“
Allein damit aber lässt es sich nicht erklären, warum immer wieder Menschen in Krankenhäusern, vor allem in Notaufnahmen, ausrasten. Die Gründe sind vielschichtig. Sabine Köhler, Co-Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, glaubt, dass handgreifliche Gewalt vor allem am steigenden Alkohol- und Drogenkonsum liegt. „Die Drogen enthemmen, machen ungeduldig und führen zu Gewaltausbrüchen“, sagt sie. Die verbale Aggressivität, das beleidigende Beschimpfen, habe indes einen anderen Hintergrund: „Man meint zu spüren, dass verbale Gewalt üblich geworden ist. Man muss sich nur mal den Bundestag anschauen, wie manche Abgeordnete da auftreten. Da sagt der kleine Mann: Warum soll ich nicht auch einmal auf den Putz hauen?“
Das enorm lange Warten macht aggressiv
Hinzu kommt: Oft sitzen die Patienten viele Stunden in der Notaufnahme, werden ungeduldig, genervt, sauer. „Die langen Wartezeiten spielen sicher auch eine Rolle für die Aggressivität der Patienten“, sagt Siegfried Hasenbein, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft. Dass es oft enorm lange dauert, bis ein Patient behandelt wird, liegt vielerorts daran, dass es zu wenig Personal gibt – auch im Augsburger Klinikum sind derzeit nicht alle Pflegestellen besetzt. Hasenbein glaubt, dass Notaufnahmen nicht nur deswegen ein Brennpunkt sind. Sondern auch, weil dort Menschen in Ausnahmesituationen zusammenkommen. Menschen, denen es schlecht geht. Menschen, die Angst haben. Um sich selbst oder ihre Angehörigen. Dann schmort schnell eine Sicherung durch.
Es sind aber bei weitem nicht nur die Notaufnahmen, in denen Ärzte oder Pfleger angegriffen werden. Auch in ganz normalen Arztpraxen oder bei Hausbesuchen kommt es zu kritischen Situationen. Eine bundesweite Studie der Technischen Universität München, in der im Jahr 2013 1500 Allgemeinmediziner und praktische Ärzte befragt wurden, kommt zu dem Schluss: 91 Prozent der Teilnehmer waren in ihrer Tätigkeit als Arzt schon einmal mit aggressivem Verhalten konfrontiert. In den zwölf Monaten vor der Befragung war mehr als die Hälfte der befragten Ärzte leichter oder mittelstarker Aggression ausgesetzt. Und mehr als jeder zehnte Hausarzt war innerhalb eines Jahres Opfer schwerer Aggression geworden. Zahlen liefert auch der aktuelle Ärztemonitor: Jeden Tag kommt es zu mindestens 75 Fällen von körperlicher Gewalt gegen niedergelassene Mediziner und ihre Praxisteams.
Beispiele dafür, wie rau das Klima in Kliniken oder Praxen sein kann, gibt es viele. Im Februar etwa rastet eine Frau in einer Erfurter Hausarztpraxis aus, kratzt andere Patienten, schleudert Möbel und medizinische Geräte durch die Gegend. Mitte April bedroht ein Mann Mitarbeiter des Ansbacher Klinikums mit einem Messer und schließt sich in einem Zimmer ein. Als die Polizisten die Tür öffnen, tritt er ihnen mit gezücktem Messer entgegen. Er weigert sich, die Waffe abzulegen. Schließlich gibt eine Beamtin einen Warnschuss in die Decke ab und es gelingt, den Mann unter Einsatz von Pfefferspray zu überwältigen.
Und dann ist da die Geschichte aus dem Englischen Garten in München. Eine Geschichte, die zeigt, dass Rettungskräfte auch auf offener Straße attackiert werden. Es ist ein lauer Aprilabend, die Menschen zieht es in Scharen in die Parkanlage. Sie liegen auf dem Rasen, picknicken, trinken Bier. Manch einer offenbar zu viel – ein junger Mann erleidet eine Alkoholvergiftung und muss von Rettungskräften behandelt werden. Aus dem Nichts eskaliert die Situation. Während die Retter im Krankenwagen den Patienten reanimieren, steigen mehrere Randalierer auf das Fahrzeug und schütteln es. Flaschen fliegen, Beleidigungen werden gebrüllt – sie richten sich gegen Menschen, die gerade dabei sind, ein Leben zu retten.
Fußgänger zeigen den Sanitätern den Vogel
Björn Flocken kennt das. Er ist Wachleiter des Rettungsdienstes des Bayerischen Roten Kreuzes in der Augsburger Stadtmitte. Flocken sitzt an einem weißen, runden Tisch. Durch das Fenster blickt man auf die Garagen, in denen die Krankenwagen stehen, an der Wand hängt ein Kalender, auf dem ein Rettungshubschrauber zu sehen ist. „Die Pöbelei hat zugenommen. Es gibt viele verbale Attacken gegen uns“, sagt er, hält kurz inne, überlegt einen Augenblick und fügt hinzu: „Körperliche Angriffe sind eher selten. Aber die Menschen werden einfach immer unverschämter.“ Flocken lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Dann erzählt er von einem Einsatz vor etwa drei Wochen. Die Sanitäter kümmern sich gerade um ein verletztes Kind an einer Sportanlage. Plötzlich steht ein älterer Herr neben ihnen und beschimpft sie als Umweltsünder, weil sie den Motor des Rettungswagens haben laufen lassen.
Geschichten wie diese kennt Flocken zuhauf. Geschichten von Menschen, die minutenlang hupen, weil ihnen ein Rettungsfahrzeug im Weg steht, während die Einsatzkräfte einen Patienten versorgen. Von Leuten, die den Sanitätern den Vogel zeigen, wenn sie mit Martinshorn durch die Straßen fahren. Oder von solchen, die absichtlich gegen einen Krankenwagen treten, ihren Müll und ihre Essensreste auf der Drehleiter der Feuerwehr entsorgen. „Mittlerweile ist das für mich so: Die beleidigen nicht mich persönlich, die beleidigen die Jacke. Und die hänge ich am Abend wieder in den Schrank.“ Trotzdem gibt er zu: Ganz spurlos gehen solche Beschimpfungen nicht an ihm vorbei. „Man muss sich jeden Tag aufs Neue motivieren. Und das fällt zunehmend schwerer.“
Manchmal bleibt es nicht nur bei dummen Sprüchen. Flocken erzählt von einem Kollegen, der bei einem Einsatz – er wollte einem Drogenabhängigen helfen – so schwer verprügelt wurde, dass er zwölf Wochen krank war. In solchen Situationen rufen die Sanitäter die Polizei. „Die greift relativ schnell ein, wir kommen ja unbewaffnet.“ Um sich trotzdem schützen zu können, werden beim Roten Kreuz aber auch Selbstverteidigungskurse angeboten, erzählt Flocken.
Kurse, damit sich die Mitarbeiter in einer kritischen Situation schützen können, gibt es auch am Klinikum Augsburg. Ärzte, Pflegekräfte und das Sicherheitspersonal lernen im Deeskalationsmanagement, wie sie aggressiven Patienten am besten gegenübertreten. „Es kommt darauf an, die Menschen direkt anzusprechen, herauszufinden, in welcher Not sie sich befinden, sie ernst zu nehmen“, sagt Michael Wetterich, Deeskalationstrainer und stellvertretender Personalratsvorsitzender. Zuvor hat er als Kinderkrankenpfleger gearbeitet und weiß, wie schnell sich ein kleiner Konflikt zu einem handfesten Streit auswachsen kann.
Wetterich ist ein großer Mann mit dunklen Haaren, Bart und einer sanften, tiefen Stimme. Jemand, der beruhigend auf andere wirkt. Er steht von seinem Schreibtisch auf, streckt seine rechte Hand nach vorne und sagt: „Stopp!“ Dann geht er einen Schritt zurück. „So definiere ich meinen Sicherheitsbereich“, sagt er. Den Bereich also, der immer zwischen ihm und einem aufgebrachten Patienten liegen muss. „Dann sage ich: ,Sie machen mir Angst.‘ Das hilft oft, denn die Menschen wollen ja niemandem Angst machen. Sie sind dann von sich selbst geschockt.“
Nicht immer reicht das aber aus. Deswegen wird in den Kursen auch gelehrt, wie man sich befreit, wenn man am Handgelenk gepackt oder an den Haaren gezogen wird. „Es geht dabei nicht darum, den anderen außer Gefecht zu setzen, sondern darum, sich selbst zu schützen“, sagt Wetterich.
Die Notaufnahme des Klinikums ist nur wenige Minuten von Wetterichs Büro entfernt. Ein Rettungswagen fährt vor. Sanitäter schieben eine Frau im Rollstuhl durch die Tür, vorbei am Wartezimmer, in dem an diesem Vormittag eine Handvoll Menschen sitzt. Die ältere Dame mit der blutigen Wunde an der Stirn steht langsam auf und geht durch die Flügeltüre in den Behandlungsbereich. Die anderen Patienten warten weiter. Niemand spricht. Es ist ruhig. Aber hier kann es eben auch ganz anders zugehen.
Die Diskussion ist geschlossen.
Wenn jemand in der Notaufnahme, verbal angreift, muß rausgeworfen werden, er ist nicht krank genug um in der Notaufnahme zu sein.