Ein Totenacker voller Leben
Der Alte Nördliche Friedhof in München ist keine gewöhnliche Grabesstätte
München Die wuchtige Backsteinmauer lässt schon von außen ahnen, dass sich hinter dem großen Geviert mitten in der Maxvorstadt ein städtischer Friedhof befindet. Wer den Eingang beobachtet, bemerkt, dass keine Trauernden aus- und eingehen, sondern Jogger, Touristen und Mütter mit Kinderwägen das Tor passieren. Eingebettet von den prachtvollen Anlagen des Königsplatzes, der Universität und Schwabing liegt der Alte Nördliche Friedhof in München. Beerdigt wird hier schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs keiner mehr. Drinnen sieht es aus wie in einem verwunschenen Park. Die mehr oder minder verfallenen Grabmäler sind mit Efeu berankt. Hier treffen sich Menschen, die vom Rummel der Großstadt eine Auszeit nehmen wollen.
Auf einer der Parkbänke fällt eine Frau, ganz in Gelb-Blau gekleidet, auf. Es ist die Münchner Postbotin Sabine Klein. „An sonnigen Tagen mache ich hier im Friedhof öfter mal Pause“, erzählt sie und beißt in ein mitgebrachtes Wurstbrot. Für sie ist es ein Ort zum Innehalten. Nach einer Viertelstunde setzt sie ihre Runde fort. So schön kann Pause sein.
Mit den Gräbern hat sich die Zustellerin bislang nicht beschäftigt. Dabei hat dieser Friedhof eine besondere Geschichte. Hinter den Namen an Grabstätten unter dem lichten Blätterdach von Birken, Eschen, Robinien und Platanen verbergen sich Lebensläufe, die oft bereits im vorvergangenen Jahrhundert endeten. Die Goldschriften im Stein sind oft ausgewaschen, Buchstaben und Ziffern schwer zu lesen.
Bei seiner Eröffnung im Jahr 1868 war der Nördliche Friedhof für 9000 Familiengräber und 30 Grüfte in den Arkaden angelegt worden. Viele Münchner Prominente des 19. Jahrhunderts fanden hier ihre letzte Ruhe. Der Zweite Weltkrieg sorgte in den Grabreihen allerdings für arge Verwüstung. Heute sind den Angaben nach noch ungefähr 800 Grabstätten erkennbar.
Im Internet kann man fast alles finden, doch diese Namen sind bis auf wenige Ausnahmen mit Google nicht aufzustöbern. Der von Johann König beispielsweise. Sein Beruf ist auf dem kleinen Grabstein aus schwarzem Marmor angegeben: „Bürodiener“. Er wurde 1827 geboren, in einer Zeit, als Strom nicht erfunden war. Was für ein Mensch er war, wen er liebte, wie er lebte – kein Hinweis. Nur über seinen Tod gibt die Inschrift Auskunft: Dezember 1874. Das ist, was blieb.
Ein anderer Name an einer Grabstätte an der Außenmauer sticht ins Auge: Max Graf von Montgelas, 1860 in St. Petersburg geboren. Über ihn wird man fündig. Er entpuppt sich als ein Enkel des vormaligen bayerischen Ministerpräsidenten Maximilian von Montgelas. Der legte vor 200 Jahren unter König Maximilian I. den Grundstein für die moderne bayerische Verwaltung. Während man sich an den berühmten Opa noch entsinnt, ist die Erinnerung an seinen Enkel längst verblichen. Dabei stellt sich heraus, dass der anerkannte Militärhistoriker Montgelas unter anderem versuchte, nach dem Ersten Weltkrieg die Kriegsschuldthese zu widerlegen. Vergeblich allerdings. Die eherne Regel trat nach seinem Tod ein: Wer keinen Erfolg hat, dessen Name wird nicht weitergetragen.
Ein Jogger rennt verschwitzt und schwer schnaufend vorbei. Rund 800 Meter lang ist die Rundstrecke um den Friedhof, steht in einem alternativen Stadtführer. An diesem warmen Frühlingstag sind Dutzende von Läufern und eine Gruppe übergewichtiger Walker unterwegs.
Auf einem freien Stück Wiese haben drei Studentinnen ihre Picknickdecken ausgebreitet. Wie sich herausstellt, stammen sie aus Augsburg und Friedberg. „Wir kommen regelmäßig hier vorbei“, sagt Theresia Kölbl, die sich an der Münchner Universität zur Gymnasiallehrerin ausbilden lässt. Den Friedhof finden sie und ihre Freundinnen „wunderbar“. Er sei schöner als der lärmende Englische Garten.
Die jungen Frauen schätzen die Würde, die von diesem Ort ausgeht. „Wir haben uns auch überlegt, ob es pietätlos ist, sich hier zu sonnen“, sagen sie.
Nicht weit entfernt von Montgelas liegt Ludwig von der Tann begraben. Er war ein glückloser Soldat, der als Bayerns Generalstabschef zusammen mit den Österreichern den Deutschen Krieg 1866 verlor. Gestorben ist er 1881 in Meran. Zwischen Freiherren, Kämmerern und Geheimräten findet sich noch ein anderer klangvoller Name.
Der einer Frau – Lucile Grahn- Young. Auf dem Grabstein steht, sie war „Ballettdirectrice“ am Hoftheater. Auch von ihr findet sich mehr. Sie war eine dänische Ballettdiva. Ihre Auftrittsorte die Mailänder Scala, die Pariser und die Londoner Oper – die Frau war ein Star. In ihrem Testament vererbte sie ihren gesamten Besitz der Stadt München. Die revanchierte sich und benannte ihr zu Ehren eine Straße neben dem Prinzregententheater nach ihr.
Von all den Lebensläufen der hier Begrabenen wissen die beiden Touristinnen aus Hamburg nichts, die erstmals durch die Grünanlage schlendern. Doch die älteren Damen haben etwas anderes, nicht minder Interessantes beobachtet: Die Grabsteine streben, anders als in ihrer Heimat, „schlank dem Himmel entgegen“. Überhaupt habe dieser Friedhof „den idyllischen Charakter eines Museums“, sagen sie. Eines ganz speziellen Museums, ist man geneigt hinzufügen.
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