Wie barrierefrei ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland?
Das Verfassungsgericht sieht eine Lücke beim Schutz von Menschen mit Handicap, wenn es zur Triage kommt. Doch nicht nur dort gibt es Handlungsbedarf, erklärt VDK-Chefin Verena Bentele.
Frau Bentele, Sie sind die Vorsitzende des Sozialverbands VdK und selbst blind. Empfinden Sie den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Triage auch wie Dominik Peter, der Vorsitzende des Berliner Behindertenverbandes, als nachträgliche Ohrfeige für die Corona-Politik der Großen Koalition? Schließlich mussten behinderte Menschen zuerst klagen, um auf ihre Benachteiligung hinzuweisen.
Verena Bentele: Also ich würde es anders formulieren: Ich finde es gut und richtig, dass jetzt noch mehr über das Thema gesprochen wird und dass die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber einen klaren Auftrag erteilt haben. Mir sind zwar aktuell keine VdK-Mitglieder bekannt, die behindert sind und nicht die Behandlung bekommen haben, die sie brauchen. Ich höre aber vermehrt, dass behinderte Menschen gebeten werden, nicht in die Kliniken zu gehen, um sich behandeln zu lassen. Das habe ich auch schon aus Einrichtungen gehört, in denen behinderte Menschen leben. Dieses Thema ist aber für alle Patientinnen und Patienten relevant, denn immer mehr notwendige Operationen werden abgesagt oder verschoben.
Können Sie selbst also die Sorge nachempfinden, in einem Extremfall, wie sie die Triage darstellt, als behinderter Mensch benachteiligt zu werden?
Bentele: In so eine Extremsituation will man sich gar nicht hineindenken. Denn ich finde es ungeheuer belastend, wenn ich mir vorstelle, dass eine Ärztin, ein Arzt ein Menschenleben gegen ein anderes abwägen muss. Und wir im VdK vertreten ja nicht nur behinderte Menschen. Wir sprechen auch für alte, für schwer kranke, für pflegebedürftige Menschen – für keinen von ihnen würde ich entscheiden wollen, dass er in der Extremsituation einer Triage nicht weiter behandelt wird. Daher finde ich es so wichtig, dass wir wirklich alles dafür tun, dass es nicht so weit kommt. Es müssen verstärkt Wege und Lösungen gesucht werden, damit Ärztinnen und Ärzte diese furchtbare Entscheidung erst gar nicht treffen müssen.
Impfen gilt hier als Königsweg. Doch ist es nicht auch so, dass sich behinderte Menschen oft schwerer tun, eine Impfung oder jetzt einen Booster zu erhalten. Stundenlanges Warten kommt für viele sicher aus gesundheitlichen Gründen nicht infrage ...
Bentele: Da haben Sie Recht. Und das Problem fängt schon viel früher an: Viele ältere Menschen, die keine digitalen Kommunikationswege nutzen, bekommen in dieser Pandemie doch gar nicht die entscheidenden Informationen, die sie brauchen. Vieles wurde beispielsweise nicht in leichter Sprache kommuniziert für Menschen, die kognitive Einschränkungen haben. Und wer nicht so mobil ist aufgrund seines Handicaps oder auch nur aufgrund seines Alters tut sich auch oft schwer – das ist ein Riesenproblem, über das viel zu wenig gesprochen wurde und für das es viel zu wenige Lösungen gibt. Auch ich, die ich blind bin, war froh, nicht in ein Impfzentrum gehen zu müssen, sondern die Impfung bei meinem Hausarzt bekommen zu haben, da viele Impfzentren es Menschen mit Behinderung sehr schwer machen, sich zu orientieren. Daher sehe ich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts jetzt als wichtigen Weckruf, um die Gruppen von Menschen, auf deren Bedürfnisse stärker geachtet werden muss, besser zu schützen.
Doch auch jetzt beim Boostern wurde nicht einmal priorisiert ...
Bentele: Als VdK haben wir ganz klar gefordert: Nicht nur behinderte Menschen, sondern auch vorerkrankte und alte Menschen sollten zuerst ihren Booster erhalten. Viel zu oft hat einfach der Schnellste gesiegt. Ich finde es nicht akzeptabel, dass wir es nach fast zwei Jahren Pandemie immer noch nicht geschafft haben, wichtige Daten, die den Krankenkassen vorliegen, dazu zu nutzen, vulnerable Gruppen besser zu schützen. Das ist mit dem Datenschutz nicht mehr zu begründen. Ein massives Problem haben inzwischen auch Menschen, denen empfohlen wird, sich nicht impfen zu lassen.
Ärzte erklären aber immer wieder, dass dies nur sehr, sehr wenige Menschen seien.
Bentele: Aber diese Menschen haben ein Riesenproblem. Sie haben teils eine Behinderung, haben mehrere Vorerkrankungen, und ihr Arzt hat ihnen aus medizinischen Gründen von einer Impfung abgeraten. Eine Bescheinigung erhalten sie aber oft nicht, weil es keine Erkrankung ist, die beim Robert-Koch-Institut gelistet ist. Über diese Gruppe spricht kaum jemand, und es kümmert sich auch niemand um sie, dabei müsste es für diese Gruppe endlich eine Regelung geben.
Gibt es andere Probleme in Folge der Pandemie, die nicht beachtet werden?
Bentele: Was auch oft übersehen wird, ist, dass für Menschen mit Behinderung in Folge der Pandemie der Alltag noch viel schwerer und aufwendiger zu bewältigen ist. Für viele von ihnen ist es beispielsweise sehr schwierig, Abstände einzuhalten, weil sie oft auf Hilfe anderer angewiesen sind. Hinzu kommt, dass die Hilfsbereitschaft aus Unsicherheit in Folge der Pandemie teilweise abgenommen hat.
Wo sehen Sie aktuell noch große Lücken bei der Versorgung behinderter Menschen?
Bentele: Ein ganz wichtiger Bereich ist die Gesundheitsversorgung. Wie gesagt, viele Behandlungen für Menschen mit Behinderungen, aber auch für krebskranke Menschen werden jetzt in den Kliniken ausgesetzt, weil alle Kapazitäten für die Versorgung von Covid-Patientinnen und -Patienten gebraucht werden. Das kann für viele Betroffene lebensbedrohlich sein. Doch auch unabhängig von der Pandemie ist die Gesundheitsversorgung ein Bereich, bei dem es sehr große Versorgungslücken für Menschen mit Behinderungen gibt.
Könnten Sie das konkretisieren.
Bentele: Das beginnt schon bei den Informationen, die oft nicht in leichter und in Gebärdensprache zugänglich sind. Und es geht weiter bei baulichen Barrieren, die für Menschen mit mobilem Handicap nicht zu überwinden sind. Die Gesundheitseinrichtungen werden in Deutschland noch immer zum privatwirtschaftlichen Bereich gezählt und nicht zur Daseinsvorsorge, was dazu führt, dass die Betreiber nicht verpflichtet sind, im notwendigen Umfang barrierefrei zu sein. Auch viele Ärzte sind für Menschen mit Behinderungen nicht erreichbar, weil ihre Praxen nicht barrierefrei sind. So tun sich beispielsweise körperbehinderte Frauen oft schwer, einen Gynäkologen oder eine Gynäkologin zu finden, deren Praxis Untersuchungsvorrichtungen für behinderte Menschen bereithält.
Das heißt, dass behinderte Menschen unabhängig von der Pandemie nicht in dem Maße wichtige Vorsorgeuntersuchungen erhalten wie nicht behinderte?
Bentele: Ja, so ist es. Der Gesundheitsbereich ist ein besonders bitteres Beispiel, weil er solidarisch von allen Versicherten finanziert wird, aber nicht alle die gleichen Rechte haben. Ein Problem ist auch hier die Kommunikation: So gibt es keine Datenbank, die ich anschauen oder anhören kann und bei der ich erfahre, wo ich mit welcher Behinderung in meiner Wohnortnähe behandelt werde. Ärzte und Therapeuten müssen diese Informationen leider noch immer nicht herausgeben.
In welchen Bereichen sehen Sie noch Nachholbedarf?
Bentele: Ich muss noch einmal beim Gesundheitsbereich bleiben, weil er unabhängig von der Pandemie so existenziell ist. So werden beim Arzt oder in Kliniken auch Diagnosen oft nicht so verständlich erklärt, dass Menschen mit Behinderungen überhaupt verstehen, an was sie erkrankt sind und welche Therapie nötig ist. Auch wurde jetzt zwar erfreulicherweise die Assistenz von behinderten Menschen in Kliniken per Gesetz erleichtert, indem eine vertraute Person, die sie ins Krankenhaus begleitet, den Verdienstausfall ersetzt bekommt. Für demente Menschen allerdings, für die eine vertraute Person als Begleitung ebenso wichtig wäre, gilt das leider nicht.
Vom Gesundheitsbereich einmal abgesehen, wo fühlen sich behinderte Menschen noch benachteiligt?
Bentele: Die Barrierefreiheit ist ein Grundthema für die es eine feste Verpflichtung auch für alle privaten Anbieter geben müsste. So haben wir noch immer sehr viele baulichen Barrieren. Menschen im Rollstuhl können beispielsweise noch immer nicht überall vom Bahnsteig aus in den Zug ein- und aussteigen. Auch haben, um ein weiteres Beispiel zu nennen, viele Bankautomaten noch immer nur ein Display. Für mich als Sehbehinderte müssten die Automaten aber eine Sprachausgabe haben, die mir alles vorliest.
Wie ist das eigentlich beim jetzt üblichen Kartenzahlen im Supermarkt?
Bentele: Oft ist das kein Problem, es sei denn, die Kartenlesegeräte haben keine fühlbaren Knöpfe, dann muss ich bar bezahlen oder den Mitarbeitenden meine Kontonummer nennen.
Immer wieder erzählen Menschen mit einer Behinderung, dass es auf dem Arbeitsmarkt große Barrieren gibt. Viele Unternehmen zahlen lieber eine Abgabe als Mitarbeiter mit einem Handicap einzustellen.
Bentele: Das stimmt, der Arbeitsmarkt zählt auch zu den großen Baustellen, wo sich viel zu wenig tut.
Um zum Schluss noch einmal auf die aktuelle Pandemie zu sprechen zu kommen: Sitzt eigentlich im Expertenrat der Bundesregierung ein Mensch mit Handicap?
Bentele: Wünschenswert wäre das ganz sicher, aber es ist leider meines Wissens nicht der Fall.
Zur Person: Verena Bentele, 39, ist seit 2018 Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland; die mehrfache Paralympics-Siegerin lebt in München.
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Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist barrierefrei was die Beiträge betrifft, jedoch nicht die Leistungen.