In den Slums von Kalkutta für die Ärmsten im Einsatz
Donauwörth/Kalkutta "So etwas geht einem an die Nieren: Ein zwölfjähriger Bub litt an akuter Leukämie. Wir können aber aus Kostengründen nur einen Teil der Therapie übernehmen. Das ist tragisch", sagt Dr. Simon Streitwieser. "In Deutschland sind 70 bis 80 Prozent der Kinder in solchen Fällen heilbar." Sechs Wochen lang war der 71-Jährige im Oktober für die Organisation "Ärzte für die Dritte Welt" in Kalkutta, schon zum zweiten Mal. In den fünf Jahren dazwischen sei die Armut noch gestiegen. Doch die Organisation kann bei Weitem nicht alle Heilmethoden bezahlen. "Wir leben ja nur von Spenden." Die Hälfte des Fluges, Kost und Logis übernimmt die Organisation, den Rest muss der Arzt selbst aufbringen.
Eine Auswahl getroffen
Fünf Tage die Woche fuhr der ehemalige Donauwörther Kinderarzt mit einem Kollegen, Dolmetscherinnen, einer Koordinatorin und weiteren Helferinnen verschiedene Stationen an, um Menschen kostenlos zu behandeln und zu untersuchen. "Wenn wir ankamen, standen da oft 200 oder noch mehr Leute, das schafft man nicht." Also wurde eine Auswahl getroffen: 40 Männer, 40 Frauen, 40 Kinder und Schwangere bekamen einen Stempel auf den Arm und wurden untersucht, täglich insgesamt 140 bis 180 Patienten.
"Das Hauptproblem ist der Kampf gegen die Tuberkulose." Alle Formen der Krankheit, Lungentuberkulose, Lymphknotentuberkulose oder die Tuberkulose von Knochen, Dr. Streitwieser hat alles gesehen und überall versucht zu helfen. Rachitis-Kranke, eine Vitamin-D-Mangelerscheinung die zu schweren Knochenverbiegungen führen kann; mangelernährte Kleinkinder, "die im Alter von zwei Jahren gerade mal vier bis sechs Kilo wiegen". Die Kinder würden gegen ein breites Spektrum geimpft, auch gegen Wundstarrkrampf - "denn Dreck ist Trumpf", sagt der Arzt.
Mit einer Mischung aus Faszination und Erschütterung schildert er, wie Männer in kleinen, dunklen Hütten gießen und schweißen. "Besonders viele Männer haben Asthma, aber wenn man sieht, wie die arbeiten, da raucht's und stinkt's, da braucht man sich nicht wundern." Andere klagten schlicht "Mir tut alles weh". Dr. Streitwieser: "Die Temperatur kann zurzeit nachts bis auf acht Grad sinken und viele Arme schlafen auf der Straße. Dass denen alles wehtut, kann man sich vorstellen."
Auch von "Goldgräbern" erzählt der Arzt, die bis zum Nabel im Schlamm stehen und darin nach Schwermetallen suchen. Knapp zwei Euro verdienen die Männer am Tag, "das verdient kein Rikschafahrer!" Alles und jeden hat der Rentner mit einer kleinen Digitalkamera fotografiert, viele, viele Patienten mit dem Stempel auf dem Arm, Kinder, die im Dreck spielen, die Kollegen, die Millionen-Stadt und die Goldgräber.
Immer schon wollte der 71-Jährige im Ausland arbeiten, seit er nach der Assistenzzeit eineinviertel Jahre in Nigeria tätig war. "Dort habe ich die Liebe zur Tropenmedizin entdeckt." In der Zeit als Kinderarzt war eine Auszeit von sechs Wochen, so lange dauert normalerweise ein Einsatz für Ärzte für die Dritte Welt, unmöglich gewesen. "2002 ging ich in Rente und sechs Wochen später war ich auf dem Weg nach Afrika."
Vergangenes Jahr, zum 70. Geburtstag, hat Streitwieser eine Pause eingelegt, "ansonsten war ich jedes Jahr weg". Immer im Gepäck: das Stethoskop, das noch aus der aktiven Zeit in der Donauwörther Praxis stammt. Es war schon in Bangladesch, Kenia, Nigeria und auf den Philippinen. Doch sich auf den Inseln wieder allein nur mit einem Dolmetscher durchzuschlagen, das wollte sich der 71-Jährige kein drittes Mal antun. "In Kalkutta hat man ein festes Bett und kann sich abends mit Kollegen austauschen." Sechs Ärzte seien stets vor Ort, insgesamt 38 sind für die Organisation immer im Einsatz.
Viele Einzelschicksale, die bewegen
Doch trotz der vielen Erfahrung bewegen Dr. Streitwieser die einzelnen Schicksale, wie die des zwölfjährigen leukämiekranken Buben sehr. "Eine Frau wusste nicht mal, wie viele Kinder sie hat! Sie behauptete sieben, die Nachbarin sagte neun", erzählt der ehemalige Kinderarzt fassungslos. Abends saß das Team von "Ärzte für die Dritte Welt" beisammen und tauschte sich aus, am Wochenende wurden Ausflüge unternommen, "das tat gut".
Nach einer zweiwöchigen Rundreise mit seiner Frau, die nachkam, ist Dr. Streitwieser nun seit Mitte Dezember wieder zu Hause. "Man braucht schon Erholung." Ob er nochmal so einen Einsatz auf sich nimmt, weiß der 71-Jährige noch nicht. "Ich werde auch älter." Doch der Laie diagnostiziert in den Augen des Arztes leichtes Reisefieber.
Die Diskussion ist geschlossen.