Dracula ist eine Figur, die so gut wie jeder kennt. Gleichzeitig ist der Schöpfer dieses Wesens für die meisten so gut wie unbekannt. Woran liegt das?
Andreas Nohl: Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Berühmtheit von Dracula sich verselbstständigt hat. Die Figur hat sich von dem Roman abgelöst. Sie wurde einem solchen vielfältigen medialen Verwertungsprozess unterworfen, dass oft der Regisseur oder der Schauspieler, der Dracula darstellt, berühmter ist als der eigentliche Urheber. Hinzu kommt, dass Stoker als Schriftsteller nie den Rang in der öffentlichen Wahrnehmung eingenommen hat, wie es ihm in Hinsicht auf seinen Dracula-Roman gebühren würde.
Was hat Bram Stoker außer seinem „Dracula“-Roman noch alles geschrieben?
Nohl: Er hat elf trashige Kolportageromane geschrieben, die tatsächlich der Erwähnung nicht wert sind. Überlagert wird alles durch die ungeheure Wahrnehmungsdimension des Dracula. Dracula ist ein moderner Mythos geworden, die Figur ist tatsächlich berühmter als sein Autor.
Wer war Bram Stoker?
Nohl: Er ist 1847 in einer protestantischen Beamtenfamilie in Dublin geboren. Als Kind hatte er eine sehr merkwürdige Gehunfähigkeit. Sieben Jahre lang konnte er sich nicht bewegen, war an den Stuhl und ans Bett gefesselt. Mit sieben Jahren konnte er plötzlich gehen. Er wurde später ein sehr erfolgreicher Student und Sportler, ein erfolgreicher Debattenredner an der Universität.
Was für ein Typ war Stoker?
Nohl: Er war ein sehr umtriebiger Mensch. Nach der Universität wurde er erst wie sein Vater juristischer Verwaltungsbeamter. Aber er hatte immer eine Neigung zum Theater. Er schrieb in seiner Freizeit Kritiken und lernte auf diese Weise Henry Irving kennen, einen damals weltberühmten Schauspieler, der sich in den hünenhaften Menschen Stoker vernarrte und merkte, was für ein toller Kerl das ist. Und Stoker willigte ein, für Irving als Geschäftsführer seines Lyceum Theatres in London zu arbeiten. Dort lernte Stoker die Crème der englischen Gesellschaft kennen. Sein Job war ungeheuer aufwendig. Erst spät abends kam er nach Hause und schrieb an seiner Literatur.
Warum hat er bei so einem Leben überhaupt geschrieben?
Nohl: Stoker hatte eine stark überschüssige Energie. Er sah in seinem Schreiben eine Möglichkeit, sich etwas hinzuzuverdienen, obwohl er gut verdiente. Und er brauchte es, um sich seelisch und intellektuell zu entspannen.
Wie kam Stoker dazu, mit dem „Dracula“-Roman zu beginnen?
Nohl: Er hat ihn in den frühen 1890er Jahren angefangen zu schreiben, als er in Whitby Ferien machte. Dort stieß er auf Bücher, die von Transsilvanien handelten und den Vampir-Mythos beschrieben.
Sind seine Zeitgenossen schon so auf den Stoff angesprungen wie die nachkommenden Generationen?
Nohl: Im Gegensatz zum allgemeinen Glauben ist der Roman seinerzeit nicht untergegangen. Er hat beachtliche Rezensionen erhalten und war Gespräch unter den Leuten.
Warum ist der Roman ein Klassiker geworden?
Nohl: Ein Klassiker wird ein Buch immer dann, wenn es etwas erstmalig leistet und wenn es einen Menschheitsstoff gestaltet. Das ist Stoker mit Dracula gelungen.
Was hat Stoker erstmalig gestaltet?
Nohl: Er hat den ersten regelrechten Vampirroman geschrieben. Stoker transportiert einen archaischen Mythos in die Moderne hinein. Dann ist ihm noch etwas Zweites gelungen. Er lädt als Erster den Vampir-Mythos mit einer historischen Figur auf. Plötzlich hat der Vampir einen Ort und eine Geschichte. Das gibt dem Roman einen ungeheuer dramatisch-realistischen Hintergrund, den es bei anderen Vampirgeschichten nicht gab. Diese schwebten immer im Ungefähren und Unglaubhaften; bei Stoker haben wir plötzlich Elemente des Glaubhaften. Das macht seinen Dracula so virulent.
Historisch heißt, dass er eine Vorlage für Dracula gefunden hat?
Nohl: In Whitby ist er in der Geschichte Transsilvaniens auf diesen Vlad III. gestoßen, der sich selber Dracula nannte. Dieser war ein Fürst, der im 15. Jahrhundert lebte und sich durch seine besondere Ruchlosigkeit und Brutalität einen Namen machte. Er wurde Vlad der Pfähler genannt, weil er seine Kriegsgefangenen pfählen ließ. Es ist ein genialer Trick von Stoker, diesen im Grunde völlig unbekannten Fürsten aus Transsilvanien nun mit dem Vampir-Mythos unsterblich zu machen.
Sie haben den Roman ins Deutsche übersetzt. Sie haben dabei Satz für Satz und Wort für Wort um- und umgedreht ...
Nohl: ... tatsächlich ja ...
... was fehlt dem Roman?
Nohl: Eines ist klar: Stoker gehört nicht zu den großen Schriftstellern seiner Zeit. Er war ein Autor von Kolportageromanen. Das hat sich auch mit Dracula nicht geändert. Wobei er sich bei Dracula außerordentliche Mühe gegeben hat. Er hat sieben Jahre daran gearbeitet. Seine anderen Romane hat er innerhalb kürzester Zeit geschrieben.
Dann ist ihm bewusst gewesen...
Nohl: ...dass es ein ganz wichtiger Stoff ist. Vom Stilistischen her kann ich aber sagen, dass das Buch teilweise nicht gut geschrieben ist. Nun habe ich als Übersetzer, der selber Schriftsteller ist, Möglichkeiten, diesen Text an diversen Stellschrauben zu verbessern. Stoker war ja ein Theatermann. Viele Szenen sind wie Theatertableaus gebaut. Handlungen lesen sich häufig wie Regieanweisungen. Das kann man erzählerisch flüssiger gestalten. Entscheidend ist auch, dass bei Stoker ganz verschiedene Figuren sprechen, deren Stimmen sich bei ihm teilweise aber nicht unterscheiden. Sie haben jedoch sehr verschiedene Charaktere. Nun kann man sich überlegen, wie man diesen Figuren eine Sprache zuordnet, die sich normal am Originaltext orientiert – da wird nicht am Text vorbei übersetzt –, ihnen aber durch stilistische Akzentuierungen eine eigene Stimme gibt. Damit wirkt der Roman lebendiger als im Original.
Die Geschichte von Dracula lebt stark von der Handlung. Haben Sie auch eine geistige Ebene ausgemacht?
Nohl: Diese ist vielleicht das Fulminanteste. Wie ein Sprengstoff ist sie im Buch eingelagert. Stoker behandelt in dem Roman das Moment, wo in die vernunftgeprägte Lebenswelt einer englischen Elite das Böse in Form einer mythischen Figur einbricht. Die aufgeklärten Bezüge zur Welt werden durch Dracula dramatisch in Frage gestellt. Stoker greift damit das Grundproblem der aufgeklärten modernen Gesellschaft auf. Denn der Skandal für die Vernunft ist ja, dass es das Böse gibt. Stoker macht daraus einen archetypischen Roman, in dem sich die Welt der Vernunft mit dem Bösen als Mythos auseinandersetzt. Und das anhand eines fast kriminalhaften Romans. Interview: