Runterschalten am Schalttag - fangen Sie doch gleich hier an
Den 29. Februar gibt es nur alle vier Jahre. Aber was fangen wir mit den geschenkten 24 Stunden an? Eine Einladung, mal eine Runde auszusetzen.
Herzlichen Glückwunsch! Falls es im allgemeinen Getümmel untergegangen sein sollte: Sie haben heute nämlich einen zusätzlichen Tag gewonnen, Schaltjahr und so. Ein ganzer Tag, einfach so, quasi geschenkt. Und das ist doch ganz wunderbar, kommense also näher, tretense ein, machense mit! Das Karussell dreht eine Runde extra, und da steigen wir doch alle ein.
Und also beispielsweise dann: Wertstoffhof, Autowäsche, Schnee schippen, Straße kehren, oder vielleicht Shopping, Soft-Eis, sonst was … was samstags für gewöhnlich halt so erledigt oder erlebt werden will – wobei das ja fast dasselbe ist, will doch mittlerweile auch das Erleben erledigt sein.
Was Zeit mit Zenon, Achill und einer Schildkröte zu tun hat
Man könnte diesen Tag, den wir der Anpassung des Kalender- an das Sonnenjahr verdanken, aber auch anders zubringen. Etwa mal kurz innehalten und drüber nachdenken, was das überhaupt ist: Zeit. Beziehungsweise was wir für gewöhnlich damit anstellen. Denn die Klagen, keine mehr zu haben, häufen sich bekanntlich, und da 24 Stunden nach wie vor 24 Stunden sind, muss das also irgendwas mit uns zu tun haben. Oder ist Zeit womöglich gar nicht das, wofür wir sie halten - sind 24 Stunden eben nicht immer 24 Stunden?
Es gibt da diese schöne alte Geschichte, das Paradox des Zenon, wonach selbst der schnellste Läufer, in diesem Fall Achill, eine Schildkröte nicht einholen könne, wenn diese nur einen Vorsprung hat. Denn zuerst muss ja dieser Vorsprung eingeholt werden, und in dieser Zeit hat die Schildkröte aber schon wieder einen neuen, wenn auch kleineren, den Achill ebenfalls erst einmal einholen muss und so weiter … Eine schöne Geschichte wie gesagt, die zudem unsere Vorstellung von der Teilbarkeit von Bewegung, ja von der Einteilbarkeit von Zeit (also Bewegung im Raum) hinterfragt.
Aber natürlich ist das mathematisch längst widerlegt, und der Schnellere wird – sofern genügend Zeit – immer vor dem Langsameren ins Ziel kommen. Die Frage ist allerdings, ob die Menschen damit nicht dem entgegengesetzten Trugschluss aufsitzen und also glauben, alles einholen zu können. Selbst das, was schneller als ein Schildkröte ist, selbst vielleicht das Schicksal.
"Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen"
Das ist schade, denn es gibt mittlerweile ebenso den begründeten Verdacht, dass die allgegenwärtige, sich selbst vorantreibende Beschleunigung eben nicht mehr einholbar ist, die Möglichkeiten, die damit einhergehen, in einem Menschenleben nicht annähernd einlösbar sind. Dieser Befund stammt von Hartmut Rosa, der in seinem Buch „Beschleunigung“ das Paradox der Moderne auf den Punkt bringt: „Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen.“
Der Soziologe führt das auf die technische und soziale Beschleunigung zurück, der in einer Gesellschaft erst einmal alle unterliegen. Und Beispiele dafür gibt es zuhauf, vom zunächst dampf-, dann datengetriebenen Takt der Arbeitswelt bis hin zum Dauerpiepsen des Smartphones, wenn mal wieder eine Push-Meldung („Neuer Verdacht auf Corona-Verdachtsfall in Kuala Lumpur!“) oder private Nachricht eingeht, in der eine Verabredung fünf Minuten vorher abgesagt wird – sorry, keine zeit:(
Überhaupt spiegelt sich in den Medien dieser Beschleunigungsprozess am deutlichsten – und auch dessen Eigenschaft, sich selbst immer weiter zu steigern: Hieß es vor nicht allzulanger Zeit noch, in 15 Minuten kann sich die Welt verändern (BR 5), so wird jetzt eben im Minuten-Takt getickert, und sei’s, dass getickert wird, dass es momentan nichts zu tickern gibt.
Wie gesagt, das ist ein sich selbst beschleunigender und auch reziproker, also wechselseitiger Prozess, wird doch in Deutschland je nach Untersuchung mittlerweile bis zu 90 Mal am Tag aufs Smartphone geblickt – könnt ja was sein. Und irgendwas ist dann auch immer.
Dahinter steckt ein uralter Mechanismus
Zugrunde liegt dem Ganzen aber ein uralter Mechanismus von Wahrnehmung, nämlich das Aufnehmen von Information mittels Differenz, also über einen Unterschied zum Beispiel zwischen a und b, 1 und 0, Grün und Rot – und eben auch vorher und nachher, spielt sich Wahrnehmung doch auch immer in der Zeit ab. Man kennt das aus Kindheitstagen, in denen einem die Sommerferien unendlich lang erschienen, alleine, weil es in jedem Moment, hinter jedem Busch etwas Neues zu entdecken gab.
Zeit kann sich so gesehen also dehnen. Man kann diesem – nennen wir ihn informationstheoretischen – Zeit-Begriff aber auch aufsitzen, so, wie es mittlerweile ständig geschieht: Nämlich wenn man versucht, zwischen einen Zeitpunkt A und Zeitpunkt B möglichst viel zu packen. Wird das die Wahrnehmung, die Erlebnisse auf kindhafte Weise reicher machen? Wohl kaum. Beziehungsweise eher im Gegenteil: Im Bemühen, in diesem informationstheoretischen Sinne immer mehr Erlebnisse anzuhäufen, Minuten und Momente vollzustopfen, bleibt gar keine Gelegenheit mehr, uns daran zu erinnern (aber immerhin, die Fotos sind ja aufm Handy gespeichert).
Die Folge: Freizeitstress
Immer mehr oder zumindest stets etwas Neues erleben zu wollen, führt dann jedenfalls zum viel zitierten Freizeitstress oder so typischen Erscheinungen, dass sich Menschen im Feierabend auf dem Laufband strampelnd eine Netflix-Serie reinziehen und nebenbei noch die Wäsche chatten und Nachrichten bügeln – oder umgekehrt, egal. Denn was von solcherart Überbietungslogik bleibt, ist tatsächlich der rasende Stillstand, was umso weniger auffällt, als dass viele mittlerweile eher der Stillstand rasend macht.
Man könnte sagen: Im Prinzip geht es nur mehr darum, was man vorm Sterben alles geschafft hat. Und das Verb, also geschafft, ist denn doch ein wenig verräterisch, klingt nach protestantischer Arbeitsethik, nach Max Webers Geist des Kapitalismus, der sich auf sämtliche Lebensbereiche ausgedehnt hat. Denn ansonsten könnte man ja, hat man schon mal zwei Apfelbäumchen gepflanzt, auch auf den Gedanken kommen, dazwischen eine Hängematte zu spannen. Oder, mit Karl May gesprochen: „Wenn es mir beliebt, so schleppe ich ein Sofa, um in der Prärie oder im Urwald gelegentlich darauf ausruhen zu können.“ Falls man also nicht vom hierzulande niedrigen Erbschaftssteuersatz begünstigt ist, demzufolge in dieser arbeitsteiligen Gesellschaft irgendwie für sein Auskommen sorgen muss und dem dort vorherrschenden Takt unterworfen, könnte man doch zumindest versuchen, dazwischen, in dem einzigen Bereich, dem man noch halbwegs selbst beeinflussen kann, Zeit zu lassen. Dafür müssen wir die Zeit aber erst einmal richtig fassen.
Udo Jürgens hatte eine Antwort
Der französische Philosoph Henri Bergson hat das vor 100 Jahren versucht, hat die rein physikalische Auffassung von Zeit als lineare Abfolge von Zeitpunkten, die wie gesagt von uns als Differenzen, als Momentaufnahmen wahrgenommen werden, durch ein fluideres Konzept ergänzt. Denn die wirklich gelebte Zeit erfahren wir eben nicht digital, im Wortsinne also in Einzelteile zerhackt, sondern analog, als Fließen. Wie bei einer Melodie die einzelnen Töne sich zu einem Ganzen verschmelzen, so sein Beispiel, amalgamiert bei ihm Werden und Vergehen im Begriff, oder besser: Bewusstseinszustand der Dauer – und entzieht sich somit auch jedweder Messbarkeit. Und das befreit.
Oder, mit einer populäreren Melodie gesungen: „Was ist Zeit? Was ist Zeit? Was ist Zeit?“, so Udo Jürgens, und weiter: „Ein Augenblick, ein Stundenschlag – tausend Jahre sind ein Tag!“ Was im Umkehrschluss aber auch heißt: ein Tag vermag womöglich tausend Jahre aufzuwiegen. Man muss ihn nur lassen. Oder sich. Jedenfalls ablassen von der mechanistischen Vorstellung einer Verwertbarkeit von Zeit – und stattdessen beispielsweise und wie gesagt einfach mal abhängen unter Apfelbäumen.
Und hier mal ein Tipp
Einfach mal versuchen. Sich zunächst vielleicht langweilen. Dann eventuell erstaunt sein über die 546 verschiedenen Arten von Grün. Denken. Nichts denken. Plötzlich einen Gedanken haben. Plötzlich eine Erinnerung (man braucht dazu gar keine Madeleine in seinen Tee tunken). Die Zeit spüren. Die Dauer spüren. Nicht mehr wissen, wie lange es dauert. Nicht mehr wissen wollen, wie lange irgendwas (und sei es nichts) dauert.
Es gab früher einmal das Konzept der Muße, ja, diese war sogar eine bürgerliche Tugend. Heute hingegen ist der Müßiggänger ein Verdachtsfall. Das Wort bedeutete ursprünglich Gelegenheit, Möglichkeit, aber eine Möglichkeit, das ist heute nur mehr eine Option. Und von denen gibt es viele, was einen – von der Wahl des Streaming-Programms bis hin zu der des potenziellen Partners – unter permanenten Entscheidungsdruck setzt und hetzt. In der erledigten Erlebnisgesellschaft muss es eben immer weitergehen.
Das Karussell dreht sich im Kreise, und umso mehr und weil heute heute ist: Steigense doch mal aus. Wenigstens für eine Runde.
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