Robben verschwindet – Kunst taucht auf
Wie der Fußball-Reporter Raoul De Keyser zum Künstler wurde, zeigt die Münchner Pinakothek der Moderne. Er suchte die besondere Perspektive
Ein Bild fällt aus dem Rahmen: Arjen Robben liegt da im Oranje-Trikot am Boden, wie das Fußballer eigentlich nur nach einer bitteren Niederlage tun. Neben dem Titel „Robben 1“, steht das Jahr 2012, die Niederländer haben damals beim EM-Spiel im ukrainischen Charkiw überraschend gegen die Dänen verloren.
Das steckt man als Favorit nicht leicht weg, und vermutlich wäre der enttäuschte Robben am liebsten von der Bildfläche verschwunden. Schwupps, weg ist er. Das geschieht auf „Robben 2“. Man sieht nurmehr ein Stück Rasen und einen schrägen, sich auflösenden Kalkstreifen – diesmal mit Ölfarbe auf eine Holztafel gemalt. Alles oben im Bild.
In beiden Fällen war Raoul De Keyser am Werk, übrigens in seinem letzten Lebensjahr. Einmal hat er einfach nur einen Zeitungsausschnitt aufgeklebt und mit einem gekrakelten Rahmen versehen. In der zweiten Version ging der belgische Maler so vor, wie es für ihn seit Mitte der 1960er-Jahre typisch geworden war: De Keyser hat das Robben-Drama, man könnte sagen, das reale Bild, aufs Allernötigste reduziert: eine grüne Fläche und die Andeutung einer Linie, so, als würde man von weit oben im Stadion eine Stelle vor dem Tor anvisieren.
Kreidelinien aufRasenstücken
Was man sieht oder was man wahrnimmt, ist auch eine Frage von Perspektive und Entfernung. Als langjähriger Fußballreporter wusste der 1930 geborene De Keyser um die Magie des richtigen Ausschnitts und nicht zuletzt des Zooms. In keinem Teil der Zeitung wird das so deutlich wie im Sport. Wobei sich De Keyser mit seiner Kamera auch an einsamen Fußballplätzen abgearbeitet hat, um Detail um Detail einzusammeln. Man darf die nicht mehr ganz exakt sitzenden Kreidelinien und die pflegebedürftigen Rasenstücke durchaus als Vorstudien zu seiner Malerei verstehen. Und womöglich hätte man diesem in Deutschland immer noch viel zu wenig bekannten Künstler mit einer Ausstellung in einer Fußballarena eine riesige Freude bereitet.
Auf der anderen Seite gehört er natürlich in eine Kunsthalle. De Keysers Spiel mit der Abstraktion oder dem, was wir dafür halten, ist erst im Umfeld von Kollegen wie Matisse, Newman, de Kooning und Palermo in seiner Qualität und Ironie auszumachen. Zumal dieses kaum einzuordnende Werk auch ohne Bezug zu seinen Vorlagen funktioniert. In der Pinakothek der Moderne München zeigt das die vom Genter Museum für Zeitgenössische Kunst übernommene Retrospektive „Œuvre“. Mit über 100 Arbeiten aus den entscheidenden Phasen zwischen 1964 und 2012 gibt sie einen profunden Überblick.
Eine Linie kann ein Horizont sein oder ein Ufer
Die Landschaften und Seestücke, die De Keyser als junger Kerl in den späten 40ern auf die Leinwand gebracht hatte, ließ er nie gelten. Dabei war das Talent des damals kaum 20-Jährigen sehr wohl aufgefallen. Aber der bescheidene Flame, der seiner Heimatstadt Deinze vor den Toren Gents zeitlebens treu bleiben wird, setzt auf Sicherheit und steuert eine Beamtenlaufbahn an. Für den gewissen Kick sorgen seine Einsätze als Kunstkritiker und vor allem als Sportjournalist. Was er zum Malen braucht, hat er um sich.
In kräftigen, fast grellen Pop-Art-Farben erkundet er sein Refugium. Da ist der Ausblick in den Garten, den drei giftgelbe Baumstämme dominieren („Tuin“, 1964). Den größten Teil des Bilds nehmen allerdings Tür und Türrahmen ein – gemalt aus einer Perspektive, die vielleicht De Keysers Cocker Spaniel gehabt haben könnte. Überhaupt reizen ihn Winkel, Schwellen, Übergänge. Es kann der Horizont sein, wo Himmel und Meer aufeinandertreffen, oder einfach nur ein Ufer („Oever“, 1969).
Für solche Phänomene braucht De Keyser nicht zu reisen. Das Mysterium der Malerei sitzt in einer Kerbe oder in den Ästen einer Tanne. Manchmal offenbart es sich beim Blick aus dem Fenster auf eine Terrasse. Oder es fläzt sich am Boden wie der wuschelige Familienhund Baron, den De Keyser eben mal die beinhart geometrische Hard-Edge-Malerei des Amerikaners Al Held unterminieren lässt („Baron in Al Held-veld“, 1964/66).
Raoul De Keyser pflegteseine Verschrobenheiten
Was auf dem internationalen Kunstmarkt verhandelt wird, nimmt der Autodidakt sehr wohl zur Kenntnis. Das verrät auch seine Palette, die in den 70ern zurückhaltender wird, um in den 80ern wieder mächtig aufzuleuchten. Mal wird er expressiv, mal erinnert er an die Farbfeldmaler. Doch De Keyser bleibt auf Distanz und pflegt im Stillen seine kleinen Verschrobenheiten, die zwischendurch schon mal ins comichaft Subversive schwappen. Er muss ja nicht verkaufen oder regelmäßig ausstellen.
Sein Landsmann Jan Hoet bringt ihn 1992 nach Kassel auf die Documenta, da ist De Keyser bereits über sechzig. Es sind vor allem die Künstler, die ihn seit langem verehren. Weil er das Sehen lehrt. Und weil er sich bei aller Bodenständigkeit mit den großen Fragen der Kunst beschäftigt hat, um sie auf ein menschliches, überschaubares Maß zurückzuführen. Damit fordert De Keyser sein Publikum heraus – humorvoll und ohne jede Wichtigtuerei. Das macht dieses Schaffen auch so ungemein sympathisch.
„Raoul De Keyser. Œuvre: bis 8. September in der Pinakothek der Moderne München, Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, Katalog (Verlag Walther König) 39,90 Euro
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