Neil Young als Goldgräber im eigenen Soundarchiv
Der Kanadier startet eine Plattenoffensive, unter anderem will er einige sagenumwobene Aufnahmen aus den 70ern vorlegen. Überhaupt verfolgt der Musiker seine ganz eigene Veröffentlichungsstrategie.
Er ist 74, sturmerprobt und kein bisschen leise: Neil Young. Schon vor der Corona-Krise hatte der Sänger und Gitarrist angefangen, sein Archiv aufzuräumen. Jetzt aber geht er ans Eingemachte. Am 19. Juni soll endlich das weitgehend akustische Studioalbum „Homegrown“ herauskommen. 1974 erschienen ihm die Songs im Stil von „Harvest“ zu persönlich und hätten ihm regelrecht Angst gemacht, weshalb das Album nun mit 46-jähriger Verspätung erscheint.
Die unveröffentlichten Aufnahmen aus Nashville, Los Angeles und London zu restaurieren hat so lange gedauert, da Young sich weigerte, den Prozess digital durchzuführen. Weil die Songs damals eben analog eingespielt wurden, haben er und sein Toningenieur John Hanlon großen Wert darauf gelegt, die Original-Masterbänder in mühevoller Kleinarbeit so authentisch wie möglich zu restaurieren.
Doch damit nicht genug. Nach „Homegrown“ soll am 17. Juli eine Live-Aufzeichnung der Rockoper „Return To Greendale“ (2003) in voller Länge erscheinen. Young hat sie mit seiner Lieblingsbegleitband Crazy Horse eingespielt. Am spannendsten dürfte jedoch die zehnteilige CD-Box „Archives Volume 2“ (21. August) werden. Sie umfasst die goldenen Schaffensjahre 1972 bis 1976 und wartet höchstwahrscheinlich mit unveröffentlichten Studioschätzen wie dem sagenumwobenen „Chrome Dreams“ (1974-76) und „Oceanside/Countryside“ (1977) auf. Laut dem britischen Guardian wäre „Chrome Dreams“ eines der besten, wenn nicht sogar das beste Album Neil Youngs in den Siebzigern gewesen.
Fast meint man, Neil Young wäre ein Getriebener
„Rust Bucket“ (16. Oktober) ist der Titel einer weiteren Live-Veröffentlichung. Die mit sechs Kameras gefilmte Clubshow vom 13. November 1990 in Santa Cruz hält Young für eine der besten Crazy-Horse-Performances überhaupt. Am 27. November folgt mit „Young Shakespeare“ ein leiser Solo-Konzertfilm aus dem Shakespeare Theatre in Stratford/Connecticut vom Januar 1971. Die DVD enthält zudem Aufnahmen aus der deutschen Sendereihe „Swing In“. „Das Ergebnis ist eine der am reinsten klingenden akustischen Darbietungen, die wir im Archiv haben“, flötet Young. Im Lauf der nächsten Jahre sollen weitere verschollene Langspielplatten das Licht der Welt erblicken. Mit Graham Nash arbeitet er an der 50th Anniversary Edition des CSNY-Klassikers „Déjà Vu“. Bei dieser Flut von Veröffentlichungen wird man den Eindruck nicht los, als habe man es mit einem Getriebenen zu tun.
Aufgrund der Corona-Krise hat der Musiker seine Pläne für eine Club-Tour mit Crazy Horse aufgegeben zugunsten einer Online-Reihe von intimen Heimkonzerten mit Lagerfeueratmosphäre. Auf seiner Homepage www.neilyoungarchives.com hat er gerade die ersten vier Teile der Streaming-Serie „Fireside Sessions“ sowie einen bisher unveröffentlichten Konzertmitschnitt mit seiner Band Crazy Horse in Buffalo/New York am 16. Februar 1991 geteilt.
Digitale Dienste wie Spotify, Facebook, Apple, Google und YouTube sind heute die Mächtigen im Musikgeschäft. Aber man kann ihrer Dominanz durchaus etwas entgegensetzen. Das jedenfalls findet Neil Young. Der Grantler aus Toronto ist der letzte echte Rebell unter einer ansonsten eher glatten Sängerschar. „Die Technikgiganten sind Idioten“, schimpfte er vor einiger Zeit in einem Interview mit der Chicago Tribune. „Das sind alles Verlierer! Sie funktionieren, indem sie uns Content geben, der wie Scheiße klingt. Sie wollen uns unsere Privatsphäre rauben und die Musik monopolisieren. Für die ist Kunst nur Content. Ein Algorithmus!“ Young findet, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Meinung zu ändern. Aber Algorithmen könnten nur Spuren in unserer Vergangenheit verfolgen und gäben uns immer mehr von dem Gleichen. Das ist für den Rockstar nicht weniger als eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz und der Seele, weil es ein ganzes Universum an Möglichkeiten verhindere.
Neil Young ist auf einer Mission. Er will die Wiedergabegüte der digitalen Musik verbessern. Er will Klangtreue. Liebt Vinyl und hasst das Speicherverfahren MP3. Er hat einen eigenen digitalen Player auf den Markt gebracht, Pono. Dieser basiert auf hoch aufgelösten Musikdateien. Aber die erfolgreiche Streaming-Technologie machte Young einen Strich durch die Rechnung. Also hat er sich darangesetzt, sein Archiv auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Jetzt verspricht er eine Tonqualität, die fast alle Streamingdienste übertrifft. Mit denen will er sowieso nicht zusammenarbeiten.
Neil Young hat vor, sein Archiv kontinuierlich auszubauen, bis sämtliche Töne, die er je aufgenommen hat, zugänglich geworden sind. Abonnenten von www.neilyoungarchives.com bekommen uneingeschränkten Zugriff auf ein Werk, das seinesgleichen sucht: über 40 offizielle Studioalben, ein gutes Dutzend Live-Platten und ebenso viele Konzertfilme. „Wir haben auch etliche obskure Schätze mit hineingestellt“, sagt Young.
Die Gitarre röhrte "wie ein altes Blasinstrument"
Fans können sich neben den bereits erwähnten in den kommenden Jahren auf zahlreiche weitere unveröffentlichte Alben freuen, allein vier davon mit Crazy Horse: „Early Days“ enthält Studioaufnahmen der Jahre 1968 bis 1970. „Odean Budokan“ dokumentiert die Welttournee von 1976. „Toast“ wurde 2001 im gleichnamigen Studio in San Francisco eingespielt und ist laut dem Meister ein Juwel. „Ich habe meine Gitarre wie ein altes Blasinstrument klingen lassen mit einem fetten traurigen Sound. Ralphie, Billy und Poncho geben dem Ganzen ,the old funky feel‘“. Das 2013 aufgenommene Live-Album „Alchemy“ enthält u.a. eine 30-minütige Fassung seines Wahrzeichens „Like A Hurricane“.
Last but not least plant Youngs Plattenfirma Reprise anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von „After The Gold Rush“ eine Sonderedition dieses Klassikers. Um die Verwirrung perfekt zu machen, hat Neil Young soeben einen Höhepunkt des Jahres 2021 angekündigt: nämlich das neue Archivalbum „Road Of Plenty“ mit elektrisierendem Rock aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Darunter laut Young eine Monster-Version des Songs „Eldorado“, der im Oktober 1986 in Minneapolis bei einer schweißtreibenden Show mit Crazy Horse mitgeschnitten wurde. Drei Jahre später hat er mit Crazy-Horse-Gitarrist Frank ‘Poncho’ Sampedro, Drummer Steve Jordan und Bassist Charley Drayton während einer Probe im Studio „verdammt geile Musik“ wie eine 17-minütige Version von „Sixty To Zero“ und die Originalfassung von „Fuckin’ Up“ aufgenommen. Und Neil Young wird weiter nach Gold schürfen.
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