Und plötzlich ist der Alarm keine Übung mehr
Braungebrannt und scheinbar gut ausgeruht sitzt Oberstabsfeldwebel Gerhard Krader in seinem Büro in der Welfenkaserne. Etwas ungewöhnlich der beinahe schon stoppelkurze Haarschnitt, sonst ist eigentlich alles wie immer. Lediglich die große Bundeswehr-Reisetasche im Eck und der darauf liegende Stahlhelm mit Sand-Tarnüberzug deutet darauf hin, dass der Besitzer gerade aus einem Einsatzgebiet im Rahmen der ISAF-Mission in Afghanistan zurückgekehrt ist.
Gerhard Krader ist Infomeister, vergleichbar mit einem Mitarbeiter der Pressestelle eines zivilen Unternehmens. Der Oberstabsfeldwebel ist gerade von einem viermonatigen Einsatz in Kunduz zurückgekehrt, jener Stadt im Norden Afghanistans, die durch das Selbstmordattentat am 19. Mai, bei dem drei deutsche Soldaten ums Leben kamen, zu trauriger Bekanntheit gelangte.
"Die Gefahr war und ist uns allen, die wir in den Einsatz nach Afghanistan gehen, eigentlich schon vor dem Einsatz bewusst. Natürlich übertrifft das dann Erlebte die Vorstellungen um ein Vielfaches, denn die Situation vor Ort kann man nicht vorbereiten, weder in Gedanken noch durch die dreiwöchige Einweisung in Germersheim."
Wie ernst Gerhard Krader die Gefahr nahm, spiegeln seine persönlichen Vorbereitungen wider. Er verfasste sein Testament und bat einen auslandserfahrenen ehemaligen Kameraden, im Fall der Fälle die militärischen Dinge für seine Familie zu regeln.
"Nicht erst nach dem Anschlag am 19. Mai ist der Norden gefährlich geworden. Wir leben dort mit der Gefahr, doch jetzt sind die Sicherungsvorkehrungen noch viel strenger und restriktiver geworden."
Auch das Verhältnis zur Bevölkerung habe sich im Verlaufe seinerMission mit dem 13. Einsatzkontingent in Kunduz verändert. Seit dem Anschlag tun sich die Soldaten schwer, ihre Mission im Norden des Landes zu erfüllen. Die regionalen Sicherheitskräfte und die örtlichen Behörden sollen unterstützt werden, denn nur so können wiederum die staatlichen und nicht-staatlichen Hilfsorganisationen sicher arbeiten. Wie wichtig diese Aufgabe ist, beweist derzeit der aktuelle Entführungsfall des deutschen Bauingenieurs in Kabul. "Provincial Reconstruction Team (PRT)" nennt sich das Projekt, das die Deutschen von den Amerikanern 2004 in Kunduz übernommen haben.
"Wie wir beobachten konnten, begannen die Afghanen, nach dem Anschlag alle Soldaten, gleich welcher Nation, über einen Kamm zu scheren. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass wir mit ihnen nicht mehr kommunizieren können, nicht mehr auf sie zugehen dürfen. Die Fuß-Patrouillen durch Kunduz wurden im Mai komplett eingestellt, die Soldaten fahren zum Teil sogar mit Fahrzeugen, die abgedunkelte Scheiben haben, auf Patrouille. Der ursprüngliche Ansatz, den ,Kopf und die Herzen' der dort lebenden Menschen zu gewinnen, ist nur schwer weiterzuverfolgen. Wie sollen wir die Herzen gewinnen, wenn wir nicht mehr zu der Bevölkerung raus können?"
Oberstabsfeldwebel Gerhard Krader hat das deutsche Feldlager seit dem Anschlag nicht mehr verlassen dürfen. Als Presse-Feldwebel begleitete er zuvor immer wieder Journalisten und Fernsehteams bei ihren Recherchetouren. Bei den Fußpatrouillen, die Gerhard Krader auch auf jenen Markt in Kunduz führte, wo später der Anschlag verübt wurde, erlebte der Oberstabsfeldwebel eine Bevölkerung, die den Soldaten gegenüber Freundlichkeit, Offenheit und auch Neugier offenbarte. Besonders die Kinder, die sofort auf Militärfahrzeuge oder Soldaten zulaufen, verhalten sich den Deutschen gegenüber ausgesprochen überschwänglich.
"Die Kinder, das ist die eigentliche Chance für das Land und darunter vor allem die Mädchen. Wir müssen durchsetzen, dass sie eine Schulbildung bekommen dürfen. Nur so sind sie später in der Lage, selbstbewusst, intelligent und mutig ihre Lage zu verbessern und damit auch ihr Land voranzubringen. Davon bin ich absolut überzeugt. Die Bildung der Mädchen könnte ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Faktor für die Zukunft Afghanistans sein."
Außer Journalisten galt es für Gerhard Krader allerdings auch, hochrangige Personen wie den Verteidigungsminister Franz Jung oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei Besuchen zu betreuen.
Das prägendste Ereignis war jedoch der Selbstmord-Anschlag vom 19. Mai dieses Jahres. Gerhard Krader hatte zusammen mit seinem Pressestabsoffizier Major Achim Bayer gerade eine TV-Journalistin vom Flughafen abgeholt, als plötzlich Sirenen heulten und über Lautsprecheranlagen Alarm ausgerufen wurde.
"Wir haben das Szenario natürlich ständig geübt, doch plötzlich war der Alarm keine Übung mehr. Es machte sich neben den konzentriert ablaufenden Mechanismen durchaus auch Bestürzung breit. Nur wenige Minuten später wurde aus der Ungewissheit bittere Wahrheit. Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde schnell klar. Drei Kameraden waren tot, plötzlich aus dem Leben gerissen. Einen davon hatte ich näher gekannt. Noch am Tag zuvor waren wir zusammen bei einem Fußballspiel gegen Einheimische. Jetzt werde ich ihn nie wieder sehen."
Die Tage, die darauf folgten, werden die Soldaten ihr Leben lang nicht mehr vergessen können. Jeder versuchte, auf seine Art mit der Situation fertig zu werden. Oberstabsfeldwebel Gerhard Krader war froh, dass ihm sein Job als Presse-Feldwebel Gelegenheit gab, offensiv mit dem Erlebten umzugehen.
Das Medieninteresse war naturgemäß sehr groß. Im Rahmen der "Krisenkommunikation" mussten viele deutsche und auch internationale Journalisten und TV-Teams mit aktuellen Informationen und Hintergrundmaterialien versorgt werden. Zum Teil wurde rund um die Uhr gesendet, Live-Interviews wechselten sich mit Telefon-Schaltungen nahezu nahtlos ab.
"Vier Tage nach dem Anschlag wurden die getöteten Soldaten in einem sehr ergreifenden Gedenkappell verabschiedet. Es gab wohl keinen von uns, dem die Tränen nicht in den Augen standen. Ein Albtraum war wahr geworden."
Nach dem Selbstmordanschlag war die eher ruhige aber fröhliche Stimmung einer nachdenklichen und zum Teil beklemmenden Gesamtsituation gewichen, die jedoch auch zu einem Zusammenrücken der eingesetzten Soldaten führte.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Gerhard Krader im Lager gerade mit dem Militärpfarrer des Camps enger anfreundete. Allerdings empfand er die Kameradschaft im Einsatz nicht als Plattitüde, sondern erlebte diesen Begriff von einer sehr emotionalen Seite. Dort, in Afghanistan erlebte er den Zusammenhalt und die Fürsorge der Kameraden untereinander. Gerade die Ereignisse vom 19. Mai schweißten die rund 400 Soldaten im Deutschen Lager nur noch enger zusammen.
"Wir bildeten einen Kern von acht Soldaten, die sich regelmäßig beim Militärpfarrer in der sogenannten Gottesburg trafen. Jeden Sonntag um 19 Uhr gab es auch einen Gottesdienst, von dem ich keinen versäumte. Am Ende war ich sogar als Helfer eingesetzt und hab zum Beispiel Fürbitten vorgetragen."
19 Wochen verbrachte Gerhard Krader in der afghanischen Provinzhauptstadt Kunduz. Die Rückkehr zur Familie in Kaufbeuren und zu den Kameraden in der Landsberger Welfenkaserne gelang ihm ohne größere Probleme. Mit seiner Frau und seinem Sohn hatte der Oberstabsfeldwebel ohnehin regelmäßigen Kontakt, ob über E-Mail, Telefon oder ganz ordinär und altmodisch per Brief.
"Es war eine unglaubliche Erfahrung, wie sehr ein Brief plötzlich eine ganz andere, im Zeitalter von Computer und weltweitem Internet nahezu schon vergessene Bedeutung zurück erhält. Diese handgeschriebenen Zeilen einer lieben, nahestehenden Person haben plötzlich einen ungeheuren, persönlichen Stellenwert. Ich war jedes Mal total aufgeregt, wenn es hieß, dass ein Paket für die PIZ (Presse-Informations-Zentrum) angekommen ist."
Er freut sich jetzt auf den Urlaub mit der Familie, der ihn nach Bautzen in die neuen Bundesländer führen wird. Dort, so wurde in Kunduz fest vereinbart, will er den Militärpfarrer wieder treffen. Wie übrigens Anfang September auch die Kameraden aus der "Gottesburg" in Saarbrücken beim verpflichtend vorgeschriebenen Einsatz-Nachbereitungsseminar. Gerhard Krader hat den Einsatz, trotz der langen Trennung von Familie und Freunden und trotz der schrecklichen Ereignisse insgesamt als Bereicherung erlebt, die er nicht missen möchte. Bis zum 19. Mai erlebte er ein "wunderschönes Land Afghanistan" mit dessen Kultur und den dort lebenden Menschen. Als gewinnbringend empfand er auch die Begegnung mit den Journalisten und Fernsehteams.
"Wäre meine Rest-Dienstzeit länger, würde ich mich trotz oder gerade wegen der Erfahrungen noch einmal für einen Auslandseinsatz melden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass ich nach meiner Pensionierung im nächsten Jahr - und das ist mit meiner Familie bereits besprochen - als Reservist noch einmal in den Einsatz gehen werde."
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