
Die Nazis sind unter uns

Die Premiere des Musicals „Cabaret“ löst große Diskussionen unter den Zuschauern aus – wegen einer provokanten Szene vor der Pause
Ulm Solchen Redebedarf hatte das Ulmer Premierenpublikum lange nicht: Fünf Gongs benötigte das Theater, um die laut redenden Menschen nach der Pause von Harald Fuhrmanns Musical-Inszenierung „Cabaret“ aus dem Diskutieren heraus wieder ins Große Haus zu bringen. Auch im Gespräch mit der NUZ ging es fast nur um eine Szene: um den Auftritt von im Publikum verstreuten Mitgliedern des Unichors und der Ulmer Kantorei, die bei einem Lied aufstanden und den Hitlergruß zeigten. Der Auftritt wirkte so echt, dass ein Chormitglied bespuckt wurde.
Lob für Gesangsleistung der Schauspieler
„Mir hat das Musical sehr gut gefallen“, sagt Ursula Neuberger aus Ulm, „und ich bewundere, wie gut die Schauspieler singen können. Die Szene vor der Pause, als Menschen im Publikum mit dem Hitlergruß aufstanden, ging mir extrem unter die Haut.“ Sie habe die Szene zunächst für echt gehalten, sagt Neuberger, und sei zutiefst erschrocken. „Da das ja ältere Sänger waren, dachte ich, es gibt hier direkt unter uns im Publikum eine ganze Reihe alter Nazis. Es ist gut, dass es nicht so ist.“
Der Elchinger Walter Renzer war einer der Sänger: „Wir wollen zeigen, wie es im realen Leben passierte, dass immer mehr mitmachen.“ Nicht um eine Schönung des Nationalsozialismus gehe es in der Inszenierung, sondern ums Gegenteil, sagt Renzer, „darum, wie es passierte und dass so etwas eben nie mehr geschehen darf“. Das hätten manche der Zuschauer völlig falsch verstanden.
„Mit einer solchen Szene rechnet man nicht“, sagt Cornelia Lechner aus Thalfingen. „Mit dieser Szene aber blieb ein Geschehen, bei dem immer mehr mitmachen, nicht auf der Bühne, sondern kam ganz nahe an die Zuschauer heran.“ Ob die heftige Reaktion eines Zuschauers, Sängern den Arm herunter zu drücken, falsch war oder sehr passend, fragt sich Lechner. „Auf jeden Fall eine tolle Inszenierung, ein tolles Stück!“
Als Blinder nimmt Hartmut Dorow (Ulm) ein Bühnenstück vor allem atmosphärisch und über das Gehör wahr. Er sagt: „Ich fand die Musik sehr anziehend, sehr schön. Für mich kam in der Szene vor der Pause der Nationalsozialismus plötzlich in den Zuschauerraum, dadurch, dass der Gesang der Chormitglieder von dort kam. Ein großartige Idee.“
Von einer tollen Inszenierung spricht auch die Ulmerin Beate Kaiser. „Das Bühnenbild mit dem Koffer ist auch eine witzige Idee. Die Szene vor der Pause provoziert, das ist aber gut für Ulm. Die Kunst muss frei sein, und das Publikum muss eine solche Umsetzung aushalten.“ Sie habe aber zuerst auch gedacht: „Ich bin im falschen Film“, sagt Kaiser. „Das war so echt, dass sich auch hinter mir jemand aus dem Publikum über die Nazis beschwert hat.“
Statist und Angreifer haben sich ausgesöhnt
In der Pause ausgesöhnt hat sich Karl Frank mit dem Zuschauer, der ihn als Nazi beim Auftritt aus dem Publikum heraus bespuckte. „Ich bin furchtbar erschrocken, als es passierte“, sagt er. „Als Statist war es selbstverständlich, den Arm zu heben, wie es die Inszenierung vorsah.“ Dann sei plötzlich die Grenze zwischen Theater und Realität aufgelöst gewesen. „Ich hatte die Erfahrung, angespuckt zu werden, auch noch nie im Leben gemacht. Dass die Szene dem Publikum derart unter die Haut geht, dass so etwas passiert, hatte keiner von uns erwartet.“ "NUZ-Kritik Seite 17
Die Diskussion ist geschlossen.