Bedingungsloser Schießbefehl sorgt für Verwirrung
Der Fund eines Schießbefehls gegen DDR-Flüchtlinge hat am Jahrestag des Mauerbaus die Diskussion über strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen entfacht.
Auch die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, will klären lassen, ob das in Magdeburg entdeckte Stasi-Dokument für strafrechtliche Ermittlungen relevant ist. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) äußerte sich am Montag skeptisch zu den Chancen dafür.
Die in der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde gefundene Dienstanweisung von 1973 für Mitglieder einer an der Grenze eingesetzten Stasi-Spezialtruppe befahl unverzügliches Schießen auf Flüchtlinge, ausdrücklich auch auf Frauen und Kinder.
Die Berliner Staatsanwaltschaft will klären, wer der Verfasser und wer der Adressat des Papiers ist, wie ein Sprecher sagte. Es sei auch die Frage, wie das Papier verteilt und ob der Schießbefehl ausgeführt worden sei. Der Staatsanwaltschaft sei ein Dokument in dieser Form bisher nicht bekannt.
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) sagte am Rande einer Gedenkveranstaltung zum 46. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961, das Dokument zeige erneut "die Unerbittlichkeit, Willkürlichkeit und Menschenverachtung des DDR-Regimes". CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte zu dem Fund, es sei "ein deutlicher Denkzettel für all diejenigen, die die Grausamkeit des SED-Regimes gerne in den Geschichtsschubladen verschwinden lassen möchten".
Mitglieder des DDR-Politbüros müssen nach Meinung des Berliner Politologen Jochen Staadt von Stasi-Schießbefehlen an der innerdeutschen Grenze gewusst haben. "Es ist unvorstellbar, dass zum Beispiel Egon Krenz nichts von einer Stasi-Einsatzkompanie an der Grenze ahnte", sagte der Wissenschaftler vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Der frühere DDR-Staatschef Egon Krenz stritt in der "Bild"-Zeitung die Existenz eines Schießbefehls ab: "Es hat einen Tötungsbefehl, oder wie Sie es nennen "Schießbefehl", nicht gegeben."
Die SED-Nachfolgepartei Die Linke relativierte den Schießbefehl. Linke-Geschäftsführer Dietmar Bartsch sagte, das Dokument widerspreche den Gesetzen der DDR und hätte zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt. Außerdem stamme das Papier aus "einer untergeordneten Behörde ohne Kopfbogen und ohne Unterschrift". Bodo Ramelow, Vize-Fraktionschef der Linken im Bundestag, kritisierte in der "Thüringer Allgemeinen", dass die Behörde der Öffentlichkeit längst bekannte Dokumente als vermeintliche, sensationelle Geheimakten präsentiere, um ihre Arbeit zu rechtfertigen.
Als "übertrieben" bezeichnete das ehemalige SED-Politbüromitglied Günter Schabowski die Reaktionen auf das Dokument. "Ob der Schießbefehl nun in schriftlicher Form vorlag oder nicht, ist doch unerheblich", sagte Schabowski der Zeitung "Der Tagesspiegel" (Dienstag). Es sei Praxis gewesen, dass Menschen bei Fluchtversuchen an der innerdeutschen Grenze erschossen wurden. Insofern sei die Reaktion von Egon Krenz, der den Schießbefehl erneut geleugnet hatte, unverständlich. "Wir alle, auch ich, tragen Mitschuld daran, weil wir nichts dagegen unternommen haben", sagte Schabowski.
Birthler sagte: "Der Befehl spiegelt nicht die allgemeine Befehlslage der Grenztruppen wieder, sondern den Kampf gegen vermeintliche Verräter." Er zeige aber die "Bereitschaft zu einer Brutalität", die sonst nicht so dokumentiert sei. Dass Auszüge aus dem Dokument bereits 1997 veröffentlicht wurden, ändere nichts an der Einordnung. "Wir erleben immer wieder, dass Dokumente neu gefunden und bewertet werden." Ihr selbst sei die frühere Veröffentlichung "vor zwei Tagen noch nicht bewusst" gewesen.
Thierse sagte im ZDF-"Morgenmagazin": "Dass ein Prozess gefordert wird, das kann ich verstehen. Ich bin allerdings skeptisch, ob ein solcher Prozess stattfinden wird." Er nahm zugleich die Stasi-Unterlagenbehörde in Schutz.
Der Schießbefehl aus Magdeburg lag nach Angaben des Zentrums für Zeithistorische Forschung schon seit Monaten in der Stasi-Unterlagenbehörde vor. "Vor der Sensationierung hätte ich mir mehr Sachverstand gewünscht", sagte der Historiker Hans-Hermann Hertle der Deutschen Presse-Agentur dpa.
Die DDR hatte am 13. August 1961 die Grenze zu West-Berlin abgeriegelt und damit die deutsche Teilung besiegelt. Die Zahl getöteter DDR-Flüchtlinge liegt laut dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zwischen 270 und 780.
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