Internet? Gefällt mir nicht mehr
Ich bin ja selbst dabei. Schon lange. Aber jetzt will ich raus. Zu viel Zeit schon hier verplempert. Vielen Menschen wird das Internet zur Belastung. Sie gehen offline. Ein Selbstversuch von Holger Sabinsky
Ich bin ja selbst dabei. Schon lange. Aber jetzt will ich raus. Zu viel Zeit schon hier verplempert. Und mindestens dreimal am Tag der zwanghafte Blick ins Netzwerk meiner Wahl: Hat mir jemand geschrieben? Will sich jemand mit mir "anfreunden"?
Ich bin Jahrgang 1970. Ich kenne auch noch die Zeit "ohne". Ja, es stimmt. Das hier, das war eine Zeit lang amüsant. Aber eigentlich lerne ich Menschen am liebsten persönlich kennen. Und eigentlich habe ich immer schon lieber telefoniert als gechattet. Es ist also an der Zeit für eine Netzflucht, für ein bisschen mehr "offline", für weniger Facebook.
Das Internet selbst zeigt: Ich bin mit meinen Überlegungen nicht alleine. Wir sind viele. In der Google-Suche nimmt die Frage "Wie lösche ich meinen Facebook-Account?" schon einen Topplatz ein. Wenngleich das erfolgreichste sogenannte soziale Netzwerk schon mehr als 500 Millionen Mitglieder begrüßt haben will, so gab es inzwischen auch Meldungen, dass sich das Wachstum im US-Markt beispielsweise etwas einbremst. Es gibt auch Länder, in denen Facebook laut Statistikdienstleister Facebakers inzwischen Mitglieder verliert.
Es geht übrigens nicht nur um Facebook. Allgemein scheint eine Art Sättigung eingetreten zu sein, eine Rückbesinnung auf die nicht digitale Welt. Viele sind auch des "Immer-erreichbar-Seins" überdrüssig. Und viele wollen nach Jahren der Entäußerung ihre Privatsphäre besser schützen. - Also raus. Nur wie? Segnung des Internets: Die Seite ausgestiegen.com erklärt, wie es geht.
Erster Schritt: "Einloggen mit Zugangsdaten"
Vor dem Ausstieg kommt noch mal der Einstieg in den ganzen virtuellen Kosmos der "Gefällt-mir"-Kommentare, Pinnwand-Einträge, Fotoalben und der Chats. Fühlt sich heimelig und vertraut an. Und es gibt ja auch ein gutes Gefühl, sind Freundschafts-Anfragen da oder ist das Postfach gut gefüllt.
Zugleich aber tauchen wieder diese Fragen auf: Wer sind eigentlich diese Wichtigtuer, die stets auf Englisch schreiben, obgleich 98 Prozent ihrer "Freunde" deutschsprachig sind? Und: Wer ist Christiane Kniff, die junge Dame, die mich vor einem Jahr als "Freund" hinzufügen wollte und von der ich nur glaubte, sie kennen zu müssen, weil einige meiner "Freunde" sie schon unter ihren Kontakten hatten? Fräulein Kniff nervt, seit ich sie "kenne", mit Tipps, wo man gut einkaufen oder einen Kleinkredit erhalten kann. Was den Verdacht nährt, dass das Fräulein Kniff ein mehr oder weniger subversives Marketinginstrument ist. Raus hier.
Andere haben es schon hinter sich. In zwei neuen Büchern beschreiben Autoren, wie sie eine Zeit lang ganz ohne Internet und Blackberry (über)leben. Alex Rühle, 40, Kulturredakteur bei der Süddeutschen Zeitung, erzählt in "Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline", wie er süchtig nach dem Schreiben, Empfangen und Checken von E-Mails war. 60 Mails täglich bekommen, das sei wie 60-mal warmes Fläschchen fürs Ego. Als Rühles Frau die ersten Seiten seines Manuskriptes las, sagte sie: "Huiuiui, ich hatte keine Ahnung, dass du dermaßen ein Rad abhast." In einer Spiegel-Titelgeschichte suchte die Autorin kürzlich die Muße in einer übereilten Zeit mit ewiger Hast und Nonstop-Präsenz.
Zu Recht irgendwie, denn die Fragen bleiben doch: Warum muss ich ständig erreichbar sein? Bleibt mein Restleben nicht doch ein bisschen auf der Strecke? Und sollte ich mich mit Freunden nicht lieber in der Kneipe treffen statt bei Facebook? Wie viele soziale Kontakte sind überhaupt zu bewältigen? Und welche Qualität hat die Kommunikation? - Einer neuen Studie von Lightspeed Research zufolge, einem Marktforschungs-Institut, besucht ein Drittel der amerikanischen Frauen im Alter von 18 bis 34 als Allererstes am Tag die Facebook-Seite - noch bevor sie ins Bad gehen. Über die Hälfte der 1600 Befragten sagen, dass sie mit mehr Menschen online als von Angesicht zu Angesicht kommunizieren. Ein gutes Drittel der Frauen bezeichnet sich gar als Facebook-süchtig. Und ja, auch bei mir ist es ein bisschen wie eine Sucht. Meine "Freunde", vielleicht sogar das Fräulein Kniff werden mir irgendwie auch fehlen. Glaube ich. Raus hier.
Zweiter Schritt: "Kontoeinstellungen"
Facebook versucht mich mit aller Macht davon zu überzeugen, dass das eine sehr schlechte Idee ist, mit meinem Ausstieg. Mein Profil werde gesperrt, mein Name und mein Bild von allen Inhalten entfernt. Oben am Bildschirm taucht eine Leiste mit Bildern von Freunden auf. Darüber steht: Lisa wird dich vermissen. Sascha wird dich vermissen. Henrike wird dich vermissen. Thomas wird dich vermissen. Karin wird dich vermissen.
Niemand wird mich vermissen, denn ich bin ja nicht weg. Ich werde meine Freunde treffen, E-Mails schreiben und mit ihnen telefonieren. Es gibt diese schöne Episode, die Alex Rühle in seinem Buch erzählt. Vor seinem digitalen Fasten aktivierte er den Abwesenheitsagenten seines Mail-Programms. Der Agent formuliert diese Nachricht: "Ich werde vom 1. Dezember bis zum 31. Mai nicht im Büro sein." Rühle war aber im Büro und wollte es sein, doch der Satz konnte nicht umformuliert werden. Er schrieb also darunter: "Halt! Stimmt nicht! Ich bin die meiste Zeit da. (...) Über postalische Zuschriften, Faxe oder gar persönliche Besuche freue ich mich in dieser Zeit des digitalen Fastens noch mehr als sonst schon."
Dritter Schritt: Grund für den Austritt
Facebook zwingt mich zu einer Begründung. Ich klicke auf "Ich verbringe zu viel Zeit auf Facebook", wohl wissend, dass ich daran selbst schuld bin. Ein Fenster geht auf: Ich könne meine Interaktion kontrollieren, indem ich die Anzahl von Facebook-Mails einschränke. Bei jedem Grund ("Ich sorge mich um den Schutz meiner Privatsphäre") geht ein Fenster auf, das mich eines Besseren belehren will - außer bei einem Punkt: "Ich habe noch ein weiteres Facebook-Konto."
Vierter Schritt: "Bitte näher erläutern"
Klickt man bei Schritt vier "Sonstiges", muss man einen Freitext eingeben, der freilich sinnfrei sein kann. Man kann aber auch schreiben, dass man einfach wieder in echt leben möchte. Oder "Gefällt mir nicht mehr" hinschreiben. Ein Fingerzeig auf den sogenannten "Dislike"-Button, den Facebook-Mitglieder schon lange fordern, den Facebook aber nicht einrichtet, weil ... ja, warum eigentlich nicht? Weil einem bei Facebook alles gefallen muss?
Fünfter Schritt: "Deaktivierung"
Nach einer Bestätigung und einer Passwort-Abfrage werde ich schließlich ausgeloggt und die Meldung "Dein Facebook-Konto wurde deaktiviert" erscheint. Durchatmen. Zugleich. Erste Zweifel. War das ein Fehler? Bin ich jetzt nicht mehr dabei?
Ich komme mir kindisch vor. Ein Phänomen, das dem Medienjournalisten Stefan Niggemeier bei seinen Recherchen schon häufiger begegnet ist. Denn: "So vieles ist gar nicht anders im Netz. Die Bedürfnisse der Menschen sind gleich. Sie wollen dabei sein und nichts verpassen. Ich sehe hier Suchtpotenzial, aber keine Zauberwerkzeuge, die uns willenlos machen."
Niggemeier hält das digitale Fasten übrigens für eine Mode. Vielleicht sogar ein Thema für Printjournalisten? Nein, meint Niggemeier, das sei ein echtes Thema, das viele Leute umtreibe. Doch irgendwann werde sich die Internetnutzung bei einem gesunden Mittelmaß einpendeln. "Wir lernen damit umzugehen wie einst beim Handy." Anstrengend an der Diskussion findet Niggemeier dieses "Gut-Böse-Schema". "Das ist irreführend. Die Nutzung des Internets ist keine verlorene Zeit. Im Chat ist durchaus eine ernsthafte, tief gehende Unterhaltung möglich." Und überhaupt: Für die Masse der Leute sei das Internet inzwischen schlicht selbstverständlich.
Das gilt mit Sicherheit für Menschen unter 20. Im Leben von David, 16, spielt das Internet beispielsweise eine paradoxe Rolle: Er nutzt es intensiv, es interessiert ihn aber nicht. Er kann nicht darauf verzichten, aber es ist eine Nebensache. Er twittert nicht, er bloggt nicht.
Was auf den ersten Blick überrascht, ist typisch für die Jugend. Das belegen mehrere aktuelle Studien. Ausgerechnet die erste Generation, die ein Leben ohne Internet nicht mehr kennt, nimmt das Medium nicht sonderlich wichtig. Das ergab eine Untersuchung des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung. In ihr wurde auch David befragt.
Viele junge Leute nutzen das Netz wie den Fernseher
Die jungen Leute pfeifen auf die Netz-Errungenschaften: Nur drei Prozent bloggen, nur zwei Prozent beteiligen sich an Wikipedia, nur fünf Prozent stellen Musikdateien ein. Das ganze gerühmte Mitmachnetz, das Web 2.0, ist der sogenannten Netzgeneration offenbar ziemlich egal. Das Internet dient ihnen vor allem zur Unterhaltung. In den Netzwerken wird getratscht und posiert wie im echten Leben. 69 Prozent der 12- bis 24-Jährigen tun dies - ein ebenso großer Anteil schreibt Textnachrichten. 58 Prozent hören Musik.
Es scheint einfach so zu sein, dass viele Jugendliche einen Wendepunkt erreicht haben. Das Internet gehört nicht zu den Dingen, mit denen sie sich theoretisch beschäftigen. Sie nutzen es und seine Vorteile, weil es da ist. Einfach so. Beiläufig. Die Aufregung um den "Cyberspace", das war scheinbar ein Phänomen älterer Generationen.
Vielleicht sind die Jüngeren einfach schon weiter: Für sie ist das Internet keine neue Welt, sondern eine nützliche Erweiterung der alten. So ist das Verhältnis zwischen Mensch und Medium sehr pragmatisch. So sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink, die die Studie des Hans-Bredow-Instituts geleitet hat: "Wir haben überhaupt keine Belege dafür gefunden, dass das Internet die Jugend prägt."
Warum also haben Menschen über 25 zuweilen das Gefühl, dass sie ihren Lebensrhythmus den Geräten anpassen müssten? Weshalb sind Alex Rühle und sein Kollege Christoph Koch, der das andere Buch geschrieben hat ("Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch"), süchtig nach E-Mails und dem Blackberry? Warum spüren sie Entzugserscheinungen wie Phantomvibrieren und Aufmerksamkeitsstörungen?
Vielleicht liegen ihre beiden Bücher in einem Jahrzehnt in der Ecke mit kuriosen Remittenten, weil die Mischung aus Begeisterung und Widerwillen gegen das Internet kein Thema mehr sein wird. Im Moment sind diese zwiespältigen Gefühle aber ein großes Thema. Das belegt nicht zuletzt die Startauflage von Rühles Buch. Der Klett-Cotta-Verlag hat es für den Anfang mit stolzen 50 000 Exemplaren ins Rennen geschickt.
Die Abstinenzler Rühle und Koch sind derweil zurück im Netz. Es sei oft sehr angenehm gewesen, habe aber auch oft viel zusätzliche Arbeit gemacht, sagt Alex Rühle. Sein Smartphone will er nach der Auszeit nicht mehr haben. Auf E-Mails, Google und Wikipedia greift er aber gerne wieder zu. Habe doch vieles erleichtert. Und überhaupt: Es komme ja immer darauf an, wie man etwas nutze.
Am Ende: "Reaktivierung"
Meinen Facebook-Zugang habe ich übrigens reaktiviert. Ging ganz leicht. Die Daten waren alle noch da. Eine Weile möchte ich noch dabei bleiben, damit ich nicht doch etwas verpasse. Wirklich, ich wollte aussteigen, aber die Anziehungskraft des Netzwerkes war stärker. Noch. Den "Gefällt-mir-Knopf" werde ich aber seltener klicken. Von Holger Sabinsky
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