Drohungen und vergiftete Debatten: Der Brexodus der britischen Politikerinnen
Scharenweise kehren weibliche Abgeordnete der britischen Politik den Rücken. Schuld geben Experten vor allem der polarisierten Stimmung beim Thema Brexit.
Sie hatte lediglich ein im Fernsehen ausgestrahltes Interview mit dem Ex-Premier Tony Blair gelobt, aber dies reichte bereits aus, dass die britische Labour-Abgeordnete Angela Rayner in den sozialen Medien Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhielt. Am Ende wurden im Haus der Schatten-Bildungsministerin Panikknöpfe installiert. Zu ihrer Sicherheit – und ihrer Beruhigung.
Heidi Allen, die aufgrund des Brexit-Kurses von den regierenden Tories zu den Liberaldemokraten gewechselt ist, erzählt ebenfalls von gegen sie gerichteten Boshaftigkeiten und aggressiven E-Mails, die mittlerweile zu ihrem Alltag gehören, sowie Erlebnisse, wie sie auf der Straße beschimpft und auf Twitter beleidigt wurde. „Ich bin erschöpft von der Invasion in mein Privatleben und den Einschüchterungen“, sagt Allen.
Beleidigungen sind Teil des Jobs eines "modernen Abgeordneten"
Und auch die konservative Kultusministerin Nicky Morgan klagt vor einigen Tagen, dass Beleidigungen und „gravierende Auswirkungen auf meine Familie“ Teil des Jobs eines „modernen Abgeordneten“ geworden seien. Während Rayner bei der Neuwahl am 12. Dezember um den Wiedereinzug ins Parlament kämpft, haben Allen und Morgan entschieden, nicht mehr zu kandidieren – auch als Konsequenz aus dem veränderten politischen Klima im Königreich. Die drei Frauen stehen nicht alleine da.
„Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass unsere toxische Politik gute weibliche Abgeordnete vertreibt“, sagt Sam Smethers, Chefin der sich für Frauenrechte und Gleichberechtigung einsetzenden Wohltätigkeitsorganisation Fawcett Society. „Es ist im Jahr 2019 noch immer eine feindliche Umgebung für Frauen.“ Man entwickele sich zurück, kritisiert Smethers.
Tatsächlich ist rund ein Drittel der gut 60 Parlamentarier, die bereits angekündigt haben, bei der anstehenden Wahl nicht mehr antreten zu wollen, weiblich. Das entspricht zwar dem Anteil der Frauen im Unterhaus. Doch Beobachter weisen darauf hin, dass die meisten der scheidenden Parlamentarier in der Regel aus Altersgründen oder nach mehreren Zyklen in Westminster in Rente gehen. Weil weibliche Abgeordnete im Schnitt jünger sind und im Vergleich zu ihren Kollegen häufig noch nicht allzu lange im Parlament sitzen, würde man erwarten, dass die Zahl der aufhörenden Politikerinnen geringer ausfällt. Tut sie aber nicht. Die Schuld geben Experten vor allem den Folgen der polarisierten Stimmung beim Thema Brexit und der hitzigen Debatten im Parlament um den EU-Austritt.
EU-Befürworterin Jo Cox wurde 2016 von einem rechtsextremen getötet
Das begann bereits vor dem Referendum 2016, als die Labour-Abgeordnete und leidenschaftliche EU-Befürworterin Jo Cox auf offener Straße von einem rechtsextremen Briten getötet wurde. Der Wahlkampf war zuvor völlig aus den Fugen geraten, der Ton schrill, aggressiv, beleidigend. Doch seitdem haben die Anfeindungen und der Hass gegen Politiker noch weiter zugenommen.
Es trifft auch Männer, doch überproportional viele Frauen, wie selbst männliche Kollegen zugeben. Über soziale Netzwerke werden Politikerinnen aller Couleurs bedroht und beschimpft, erhalten Gewaltandrohungen gegen sich und ihre Familien. „Sexuell aufgeladene Rhetorik hat bei den Übergriffen im Netz auf weibliche Abgeordnete überhandgenommen, mit Drohungen, uns zu vergewaltigen und mit Verweisen auf unsere Genitalien“, sagt die konservative Parlamentarierin Caroline Spelman. Es sei deshalb nicht überraschend, dass so viele gute Kolleginnen beschlossen hätten, nicht mehr zu kandidieren.
Boris Johnson sorgt mit seinem Umgangston regelmäßig für Kritik
Auch die Konservative Spelman hört nach 22 Jahren im Unterhaus auf. Immer wieder wandten sich Politikerinnen in den vergangenen Monaten an Premierminister Boris Johnson und forderten ihn sowie andere Kollegen auf, die Sprache zu mäßigen. Der Regierungschef sorgt mit seinem rauen Umgangston regelmäßig für Kritik. Und verharmloste dann kürzlich Todesdrohungen gegen Parlamentarierinnen als „Humbug“.
Amber Rudd, Ex-Innenministerin und ehemals hoffnungsvolle Anwärterin auf den konservativen Parteivorsitz, rief deshalb als prominente Stimme dazu auf, sich gemäßigter auszudrücken. Es dürfte einer ihrer letzten Appelle als Abgeordnete gewesen sein. Auch die 56-jährige Tory-Politikerin tritt am 12. Dezember nicht mehr an.
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