Zwischen Sacharow-Preis und Malta: Grundrechte-Dilemma im EU-Parlament
Das EU-Parlament zeigt sich mutig bei der Verleihung des Sacharow-Preises an den uigurischen Menschenrechtler Ilham Tohti, aber mutlos beim Vorgehen gegen Malta.
Still zeigte Jewher Tohti das Bild ihres Vaters Ilham, 50, im Plenum des Europäische Parlamentes, ehe sie ihre Rede begann: „Niemand aus unserer Familie weiß, ob mein Vater noch lebt und ob er physisch noch derselbe Mann ist, den ich als Kind erlebt habe.“ Das war vor 2013, als der chinesisch-uigurische Menschenrechtler und Mathematik-Professor an der Minderheiten-Universität Peking für die Rechte der Uiguren kämpfte. Gesehen hat die 24-Jährige ihn zuletzt vor sechs Jahren. An diesem Mittwoch nahm sie stellvertretend für ihren Vater den mit 50.000 Euro dotierten Sacharow-Preis 2019 entgegen, den das Europäische Parlament einmal im Jahr für geistige Freiheit und im Gedenken an den sowjetischen Dissidenten und Physiker Andrej Sacharow verleiht.
Ilham Tohti lehnte sich gegen die Verfolgung von Uiguren auf
Die überwiegend muslimischen Uiguren sind eine Minderheit in China, in der Provinz Xinjiang stellen sie – noch – die Mehrheit. Aber das Regime verfolgt die Uiguren ohne Gnade. Schätzungen zufolge leben mehr als eine Million von ihnen inzwischen in Lagern, die China offiziell als „Forschungseinrichtungen“ bezeichnet. Tatsächlich aber sollen die Menschen dort unter Folter und inhumanen Bedingungen umerzogen werden.
Ilham Tohti gehörte zu denen, die sich nicht mundtot machen ließen, sondern immer wieder seine Meinung sagte. „Wenn man etwas sagt, begeht man ein Verbrechen. Es ist eigentlich kein Verbrechen nach chinesischem Recht, aber wegen irgendeines Verbrechens wird man schon angeklagt, wenn man etwas sagt. Deshalb geben viele von uns auf“, sagte Tohti 2012. Und tatsächlich schlug Peking brutal zurück. Zwei Jahre später wurde er wegen „Separatismus“ und Anstachelung zum Völkerhass“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Es war ein Prozess, der nur zwei Tage dauerte. Seither bangt die Familie. 2017 gab es ein letztes Lebenszeichen.
Am Mittwoch erzählte Tohtis Tochter von ihren Erinnerungen, von den Nächten, in denen ihr Vater in ihrem Zimmer saß, „die ganze Nacht über Aufrufe und Bitten um Unterstützung an die ganze Welt schrieb und ich dabei geschlafen habe“. An diesem Mittwoch bat sie die Europäische Union inständig, „nicht wegzusehen“ und „Druck auf Peking“ zu machen, damit nicht nur ihr Vater freikomme, sondern die Rechte der Uiguren beachtet werden. „Hören Sie niemals damit auf, die Menschenrechte und die Gerechtigkeit überall auf der Welt einzufordern“, sagte die junge Frau. Es war eine Bitte. Doch die war an diesem Mittwoch zu schnell vergessen.
EU-Parlament reagiert höchst unterschiedlich auf Verletzungen von Grundrechten
Denn es fielen Schatten auf die „Sternstunde des Parlamentes“, wie die Verleihung des Sacharow-Preises oft genannt wird, weil sich das Abgeordnetenhaus als „Gewissen Europas“ verstehen möchte. Nur eine halbe Stunde später verabschiedeten die Parlamentarier eine Entschließung, in der es auch um die Achtung der Grundwerte und den Kampf gegen ein korruptes und kriminelles Regime ging – aber dieses Mal in den eigenen Reihen. Die Volksvertreter wollten eigentlich die Situation in Malta verurteilen, die nach der Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia vor zwei Jahren offenkundig geworden war.
Die Indizien für einen Auftragsmord, dessen Drahtzieher aus Kreisen der Regierung kamen, die ihren Etat mit Korruption und Geldwäsche füllt, hatten sich in den vergangenen Wochen gehäuft. „Ich wende mich direkt an Sie, Herr Premierminister Joseph Muscat“, erregte sich der spanische Christdemokrat Esteban González Pons. „Jeder Tag, den sie länger im Amt bleiben, ist eine Schande für die Demokratie und Beleidigung für das Andenken von Daphne Caruana Galizia. Treten Sie zurück.“ Es sei unbegreiflich, dass Muscat noch in der Vorwoche zum EU-Gipfel nach Brüssel gereist sei, ohne zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Aber die Empörung wurde gebremst, weil die Sozialdemokraten den zu ihrer Parteienfamilie gehörenden maltesischen Präsidenten schützen wollten. Fraktionschefin Iratxe García beließ es bei der harmlosen Warnung vor einer „Politisierung“ der Vorgänge um den Premier und riet dazu, die maltesische Polizei ihre Arbeit machen zu lassen. So blieb es bei einer mutlosen Entschließung, in der man sich gerade mal auf die Forderung nach einem Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 gegen Malta einigen konnte. Es ist das gleiche Instrument, das schon gegen Ungarn wirkungslos blieb. China und Malta: Zwei Fälle, in denen es um Grundrechte ging – zwei völlig unterschiedliche Reaktionen im EU-Parlament.
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