Ein Grüner-Spitzenkandidat mit landesväterlichen Eigenschaften
Winfried Kretschmann könnte Regierungschef im Südwesten werden.
"Viel Feind, viel Ehr", das Soldaten-Sprichwort passt im baden-württembergischen Landtagswahlkampf auf keinen so gut, wie auf den Spitzenkandidaten der Grünen, Winfried Kretschmann. Der ist zwar alles andere als militant. Doch der kometenhafte Aufstieg der Grünen in den Umfragen der vergangenen Monate hat der seit 1953 ununterbrochen regierenden CDU offenbar Angst eingejagt. So sehr, dass sie sogar haltlose Gerüchte über den Gesundheitszustand des 62-Jährigen streute. Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) sah sich schließlich genötigt, seine Partei zur Ordnung zu rufen.
Nachdem die Grünen wegen ihrer Unterstützung der Bürgerproteste gegen das umstrittene Bahnprojekt "Stuttgart 21" in Umfragen zeitweilig auf mehr als 30 Prozent geklettert waren und der bedächtige Kretschmann bereits als künftiger Ministerpräsident gehandelt wurde, streute ein CDU-Staatssekretär, dass der Grüne den Belastungen des Amtes gesundheitlich nicht gewachsen sein könnte und als Ministerpräsident bald vom Chef der Bundes-Grünen, Cem Özdemir, abgelöst würde. Kretschmann nahm die Steilvorlage dankbar an: "Man muss schon mächtig Angst haben, wenn man Verschwörungstheorien verbreiten muss. Das ist sicher ein Zeichen von Schwäche", kommentierte er die Attacke.
Die CDU reagierte auf Kretschmanns Aufstieg vermutlich auch deshalb so gereizt, weil der Mitbegründer der Grünen in Baden-Württemberg wegen vieler seiner wertkonservativen Einstellungen durchaus auch einer der ihren sein könnte. Lange liebäugelte er auch mit einer schwarz-grünen Koalition. Der Oberstudienrat für Biologie, Chemie und Ethik stammt aus einem katholischen Elternhaus auf der Schwäbischen Alb. Als bekennender Christ sitzt er im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. Er ist Mitglied der Floristisch-soziologischen Arbeitsgemeinschaft, die sich um Pflanzenschutz kümmert. Er ist Mitglied in einem Schützenverein, wo er es zielsicher bis zum "König" brachte, und er hält das Familienleben mit Ehefrau Gerlinde und den drei Kindern hoch.
Dass er nicht Christdemokrat wurde, liegt an der "68er Sozialisation" des damals 20-jährigen Studenten in linksradikalen K-Gruppen. Über diesen "fundamentalen politischen Irrtum", wie Kretschmann auf seiner Homepage schreibt, landete er dann bei Umweltaktivisten. Er wurde Mitbegründer der Grünen in Baden-Württemberg und zog für sie 1980 in den Landtag.1986 holte ihn dann der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer als Grundsatzreferent nach Wiesbaden, bis die rot-grüne Koalition dort 1987 im Streit um die Hanauer Brennelementefabrik Alkem zerbrach.
Zurück in der schwäbischen Heimat wurde der Realo Kretschmann wieder Landtagsabgeordneter und galt für so manchen Fundi wegen seiner konservativen Einstellung als rotes Tuch. Nachdem dann aber der grüne Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn nach Berlin wechselte und sein Nachfolger Dieter Salomon 2002 Oberbürgermeister von Freiburg wurde, war der Weg für Kretschmann frei: Seit 2002 steht er an der Spitze der Grünen-Fraktion.
Dort agiert Kretschmann seitdem so sachkundig, dass ihm auch politische Gegner Respekt zollen und ihm gar "landesväterliche Eigenschaften" attestiert werden. Die Chance, dies zu beweisen, besteht für den 62-Jährigen durchaus. Die atomare Katastrophe in Japan bescherte seiner Partei in den Umfragen erneut deutliche Zuwächse bis hin zu 25 Prozent.
Der bedächtige Kretschmann hatte aber schon vor Monaten angesichts der Debatte um "Stuttgart 21" davor gewarnt, Umfragewerte von über 30 Prozent für bare Münze zu nehmen: "Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt". Gut möglich, dass der ihn nun wegen der Atomdebatte doch bis in den Stuttgarter Regierungssitz, die Villa Reizenstein, trägt - und Kretschmann der bundesweit erste grüne Ministerpräsident wird. afp
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