Warum ist Fußball in Deutschland so beliebt, Herr Fußball-Philosoph?
Ein Philosoph erklärt die Ausnahmestellung des Fußballs. Warum ist Fußball in Deutschland Sport Nummer eins? Gunter Gebauer hat dazu ein Buch geschrieben.
Willkommen im Fußball-Wunderland. Hier ist es möglich, als Fan in Königsblau Gazprom auf der Trikotbrust zu tragen und sich zugleich über die hoch bezahlte Lobbyarbeit der Eliten aufzuregen. Von einem Auto- oder Chemiekonzern finanzierte Klubs im Westen sind noch immer eine Werkself – ein aufstrebender Ostverein ist geächtet, weil er von der Unterstützung eines im „Rasen-Ball“ versteckten Brausenherstellers lebt.
Und statt eines stolzen Staatsoberhauptes betrachtet die Kanzlerin die Triumphe der eigenen Nationalmannschaft wie verständnislos staunend, freudig mit den Händen patschend. Was ist hier los?
Warum ist dies hier das Land des amtierenden Fußball-Weltmeisters? Warum ist Fußball hier Sport Nummer eins? Und warum ist es gut vorstellbar, dass gerade dieses Land mit der weltweit zuschauerstärksten Liga und dem weltweit mitgliederstärksten Verein das Land sein wird, das als Erstes eine Klausel aus dem US-amerikanischen Profisport übernimmt: eine Deckelung der Spielergehälter – sodass der Superstar auf die letzten Millionen für sich persönlich verzichtet, damit der Verein auch noch Geld hat, andere gute Spieler zu bezahlen?
Das sagt der Fußball-Philosoph
Schlag nach, beim Fußball-Philosophen! Ja, so was gibt’s. Der heißt Gunter Gebauer, ist Professor an der Freien Universität in Berlin für Philosophie und Sportsoziologie und hat nun nicht zum ersten Mal ein Buch über die Bedeutung des Fußballs geschrieben. Aber nur weil der Denker auch Liebhaber ist, bedeutet das keine Heiligsprechung. Von einer Vorbildfunktion der Fußballer zum Beispiel will Gebauer nichts hören. Fair Play? Von wegen. Moralisch sei der Einsatz der Spieler mit all den Schwalben, den Notbremsen, den taktischen Fouls und dem verlogenen Lamentieren alles andere als nachahmenswert. Es geht um den eigenen Vorteil, ums Gewinnen und um jede Menge Geld. In Deutschland wie anderswo. Punkt.
Aber die Erkenntnis liegt im großen Bogen. Dass Fußball überhaupt eine solche Faszination entfaltet, macht der Philosoph an einem Paradox fest. Was hier zur staunenswerten Kunstfertigkeit entwickelt ist, ist eigentlich ein Rückschritt der Menschheitsgeschichte. Völlig unlogisch, einen Ball nur mit dem Fuß zu spielen, wo doch gerade im differenzierten Gebrauch unserer Hände der Evolutionssprung begründet liegt. Die Regeln des Fuß-Balls sind eine behindernde Einschränkung, die eine völlige Kontrolle wie mit der Hand verbieten. Was die Besten bei aller nie auszuschließenden Unsicherheit, weil man den Ball ja nie festhalten kann, gerade daraus machen, das macht den gewöhnlichen Fußgänger alias Rumpelfüßler faktisch fassungslos (wenn er nicht von der Couch aus mit Bier und Chips in der Hand alles besser könnte).
Fußball ist milliardenschwere Unterhaltungsindustrie fürs Volk
Apropos Rumpelfüßler – eine Zäsur im deutschen Fußball. Aber zunächst: 1. Der materiell voraussetzungslose Sport wird in einfachsten Verhältnissen in England geboren und infiziert auch hiesige Arbeiter. 2. Mit den linken Arbeiterintellektuellen beginnt sich auch die Elite zu interessieren und zu engagieren. 3. Das Spiel und die Spieler gewinnen durch die Massenmedien an Kontur und Bedeutung – damit der Sport an Wirtschaftskraft. Und das Wunder geschieht: Zu jedem Schritt stellt sich in Deutschland der passende WM-Titel ein. ’54 die Nation von unten, ’74 die Spieler als Stars, ’90 das neu Wir mit neuer Mitte, auf dem Weg zur Wiedervereinigung und der gemeinsame Glaube an eine große Zukunft …
Aber dann die Zäsur. Denn Deutschland verpasst den vierten Schritt: den in die Managementwelt. Eine schon verwunderliche Spitze, weil aus dem Vereinssport nicht mehr ableitbar, ist der EM-Sieg ’96. Danach kommen die Rumpelfüßler mit dem Tiefpunkt 2000. Und dann erst: Fußballgymnasien, Leistungszentren … So führt ein 14-jähriger Aufbau zum vierten WM-Titel. Die Professionalisierung abgeschlossen, „die Mannschaft“ nun eine eingetragene Marke. Geblieben aber ist dabei eine deutsche Schizophrenie. Denn der Mythos vom Arbeitersport, der wie durch ein Wunder Ausnahmetalente gebiert, lebt in den Herzen fort. Als wäre Fußball noch immer der Sport des Volkes, darum Teil der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung und damit notwendig steuersolidarisch subventioniert – und nicht längst eine milliardenschwere Unterhaltungsindustrie fürs Volk, wie geschaffen fürs Pay-TV. Denn diese deutsche Balance, sie muss jetzt den Gefahren des Turbokapitalismus trotzen.
Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten – Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon, 320 S., 14,99 Euro
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