Wenn Kinder in Deutschland hungern
Bonn/Ulm Die Taxifahrerin wundert sich nicht. "Ernährungsarmut" - das Thema, mit dem sich ihr Fahrgast auf einer Tagung in Bonn beschäftigt hat, ist für sie nichts Abstraktes. Menschen, die nicht genug oder nicht das Richtige zu essen bekommen im Wohlstandsland Deutschland und deshalb krank werden und eine deutlich geringere Lebenserwartung haben, gibt es auch in ihrem Umfeld. "Besonders Kinder sind betroffen", sagt die Frau in dem zufälligen Gespräch. Kinder von Leuten, die den ganzen Tag arbeiten, aber nicht genug verdienen - "working poor", wie die Fachleute sagen. Oder Hartz-IV-Empfänger, die mit den Regelsätzen nicht auskommen - aber in manchen Fällen das wenige, das sie haben, für Schnaps und Zigaretten verpulvern.
Sie habe Kunden, erzählt die Taxifahrerin, die sich nachts von ihr zu einer Tankstelle bringen lassen, um Alkohol zu kaufen - mit dem Geld vom Sozialamt. "Und zu Hause schlagen sie ihre Kinder und geben ihnen nichts zu essen." Gutscheine statt Geld fürs Essen wären eine Lösung für solche Kinder, meint sie und ist mittendrin in der Problematik, die auf der Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft Ernährungsverhalten und des aid-Infodienstes diskutiert wurde (Titel: "Abgehängt und allein gelassen - Herausforderung Ernährungsarmut").
Der Hartz-IV-Regelsatz von 2,57 Euro pro Kind reiche definitiv nicht aus, um täglich für eine gesunde Ernährung mit Obst, Gemüse, Vollkorn- und Milchprodukten zu sorgen, sagt Jutta Kamensky, Lehrbeauftragte für Medizinische Psychologie an der Universität Ulm. Zehn- bis Zwölfjährige bräuchten für eine optimierte Mischkost pro Tag 4,65 Euro, hat das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund 2007 errechnet. Doch mehr Geld allein löse das Problem noch nicht.
Auch sozial schwache Familien bestellten den Pizzaservice und bevorzugten teure Fertigpackungen, statt einfache preiswerte Gerichte wie Auflauf oder Schinkennudeln zuzubereiten. Warum? Weil sie nicht kochen gelernt haben, über gesunde Ernährung kaum etwas wissen und mit dem Haushalten generell überfordert sind.
Mit Kindern, die hungern, hat die Diplom-Oecotrophologin viel Erfahrung. Manches Kind sei dennoch übergewichtig, weil es Hamburger, Pommes, Chips und Süßigkeiten in sich hineinstopft, sobald es ein paar Euro in die Hand bekommt. Arme Kinder, so die Referentin, greifen zu dem, was die Werbung zeigt und was vermeintlich einen Prestigegewinn bringt. "Am Rand zu stehen ist ihr größtes Leiden." Auch durch ihr Konsumverhalten wollten Kinder zeigen können, dass sie dazugehören. "Sie schämen sich für die Armut ihrer Eltern und haben Angst vor Ausgrenzung." Ihnen Selbstwertgefühl zu vermitteln, sie zu fördern und eigene Kräfte zu wecken, war der tiefere Sinn des "Ulmer Essprojekts" im Kinder- und Jugendzentrum "Guter Hirte" in Ulm. Ein Jahr lang hat Jutta Kamensky mit Kindern gekocht, die sonst ohne Frühstück in die Schule gehen und zu Hause keine regelmäßigen Mahlzeiten kennen. Wie man aus Kartoffeln oder Gemüse Speisen selbst zubereitet, war für sie eine neue Erfahrung.
Erfolgserlebnisse waren wichtig: "Und wenn es nur darum ging, eine Gurke in gleichmäßige Scheiben zu schneiden." Rituale, wie das Händewaschen vor dem Kochen und das Umbinden von Schürzen, wurden zum Spiel. Und es wurde trainiert, wie man mit wenig Geld "clever einkauft". Die Kinder selbst richteten ihr Essen appetitlich an, um es dann an einer fein gedeckten Tafel mit Messer und Gabel zu verspeisen. "Jetzt weiß ich, wie sich ein VIP fühlt", sei der Kommentar eines Zwölfjährigen gewesen, erzählt Kamensky gerührt. Das Projekt, das von Ikea gesponsert wurde, strahlte auch auf Familien aus. Manche Mütter lernten von ihren Kindern. Dass viele gerne etwas lernen würden, hat auch die Soziologin Margit Gutta aus Wiesbaden beobachtet. In ihrer "Werkstatt für Kochkunst und Geschichte" am Rande eines Viertels mit hohem Migrantenanteil veranstaltet sie kulinarische Seminare und Kochkurse. Immer öfter kämen Interessentinnen, denen man anmerke, dass sie Hunger haben. Gutta hat schon viele aufgenommen, die die Kurse nicht bezahlen konnten. Auf Dauer übersteige das aber ihre finanziellen Kräfte, bedauert sie - und hofft, dass die Kommune einsteigt.
Dasselbe Problem haben viele Tafeln, die schon Kochkurse angeboten haben, damit ihre Kunden lernen, aus Grundnahrungsmitteln Essen zu kochen. Bundesweit versorgen die ehrenamtlichen Initiativen täglich bis zu eine Million Bedürftige mit gespendeten, überschüssigen Lebensmitteln. "Wenn es da drei Tage hintereinander Karotten und Blumenkohl gibt, wissen viele nicht, was sie damit anfangen sollen", berichtet Regine Rehaag vom Katalyse-Institut in Köln.
Nicht nur sie fordert vom Staat mehr Engagement. Auch der Deutsche Ethikrat schaltet sich jetzt ein.
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