Dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine der Krieg Wladimir Putins sei, ist im Westen eine weit verbreitete Lesart. Leider ist die Wahrheit jedoch komplizierter.
Der Bundeskanzler sagt es. Die EU-Kommissionschefin und der französische Präsident sagen es auch: „Dies ist Wladimir Putins Krieg.“ Der US-Präsident ergänzt: „Putin ist ein mörderischer Diktator.“ Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Menschen in Russland aus dem Spiel sind. Sie tragen in westlicher Lesart keine Verantwortung für das Gemetzel.
Die Idee hinter der Formel ist nicht dumm. Der Westen will einen Keil zwischen Putin und seine Gefolgschaft treiben. Wenn sich die gesamte Kriegsschuld im Zweifel dem einen Mann an der Spitze zuweisen lässt, dann erleichtert das jede Form von Widerstand. Dann können sich Generäle oder Geheimdienstler gegen Putin stellen, ohne Mithaftung fürchten zu müssen. Vor allem aber weist das Wort von „Putins Krieg“ in die Zukunft. Es soll den Neuanfang erleichtern, nach dem ersehnten Sturz des Tyrannen. Leider ist die Wahrheit komplizierter.
Wir haben es mit einem russischen Angriffskrieg zu tun, nicht mit dem Werk eines Einzelnen. Natürlich ist Putin der Mann, der diesen Krieg auf Teufel komm raus erzwungen hat. Aber er handelt nicht im luftleeren Raum. Und es sind auch keineswegs nur Generäle und Geheimdienstler, die ihn unterstützen. Verantwortlich sind alle, die Putins Apparat dienen.
Krieg in der Ukraine: Wladimir Putin handelt nicht im luftleeren Raum
Zu den willigen Helfern zählen die Propagandisten in den Staatsmedien, die Hacker und Trolle, Abgeordnete, Gouverneure und Bürgermeisterinnen, Managerinnen und Wissenschaftler, willfährige Richter und Staatsanwältinnen, prügelnde Polizisten und die Folterknechte in den Straflagern.
Aber auch eine Mehrheit der systemfernen Menschen in Russland unterstützt diesen Krieg. Laut Umfragen liegt die Zustimmung bei mehr als 70 Prozent. Man mag die Zahlen im Detail hinterfragen, aber die Tendenz ist eindeutig. Selbstverständlich spielt dabei die jahrelange Gehirnwäsche der Putinschen Propagandamaschine eine Rolle. Aber gerade in Deutschland sollte bekannt sein, dass dies als Entschuldigung nicht reicht.
Die Menschen in Russland können wissen
Wer zur Zeit der NS-Diktatur vom Holocaust und vom Vernichtungskrieg wissen wollte, der konnte wissen, ja der musste wissen. Erst recht gilt das heute, im Internetzeitalter. Trotz aller russischen Twitter- und Facebook-Blockaden. Unter dem Strich erreichen genug Nachrichten die Menschen in Russland, um sie zum Nachdenken und Nachfragen zu zwingen. Sie können wissen. Zumal Putin den Krieg mit martialischen Worten öffentlich erklärt hat. Zuletzt hat er vor Zehntausenden im Luschniki-Stadion einen Sieg versprochen.
Und dann sind da noch all die Informationen, die Verwandte und Bekannte aus dem „Bruderland“ Ukraine direkt übermitteln. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Landsleute soeben noch einmal eindringlich aufgefordert, alle Kontakte nach Russland zu nutzen, um dort die Wahrheit über diesen Krieg zu verbreiten. Er selbst hat sich mehrfach auf Russisch an die Menschen im Nachbarland gewandt. Und es gibt ja nicht nur eine Bringschuld für Informationen, sondern auch eine Holschuld. Es ist die moralische Pflicht jeder und jedes Einzelnen in Russland, hinzusehen und zu handeln.
Menschen müssen sich ihrer Verantwortung für den Krieg stellen
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es soll hier ausdrücklich nicht einem Russenhass oder idiotischen Cancel-Angriffen auf die russische Kultur das Wort geredet werden. Gerade jetzt sollten wir mit Russen reden, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, statt Hassparolen zu verbreiten. Wir sollten erst recht Tolstoi und Dostojewski lesen, auch wenn das Putin-Regime diese und andere grandiose Künstler für seinen menschenverachtenden Chauvinismus missbraucht. Die Werke sprechen doch für sich. Man denke nur an Dostojewskis Mörder Raskolnikow, der sich für ein Genie hält und in seinem Größenwahn glaubt, dass ihm alles erlaubt sei. Er ist ein früher Putin – allerdings mit einem Gewissen.
Nein, es geht nicht darum, Russland und seine Menschen zu hassen. Es geht darum, sie in die Pflicht zu nehmen. Sie haben es in der Hand, diesen Krieg zu stoppen, und früher oder später werden sie sich dieser Verantwortung für dieses Jahrhundertverbrechen stellen müssen. So wie wir auch, im Westen.
Alle Informationen zum Konflikt erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.
Die Diskussion ist geschlossen.
Der Kommentator Krökel zieht die richtigen Schlüsse aus den deutschen Diktaturen
unter Hitler und Ulbricht und Co. Unsere Diktatoren hatten stets willfährige Helfer, die
aus ihrem verabscheuungswürdigen Verhalten bzw. Verbrechen persönliche Vorteile
zogen. Viele dieser Helfer sind nach dem Zusammenbruch der Diktaturen straflos
davon gekommen aber das Volk musste leiden.
Ich erlaube mir diesen Kommentar, weil sowohl die Familie meiner Frau als auch die
eigene im zweiten Weltkrieg einen hohen Blutzoll entrichten mussten. Hanns Luy
Ist es nicht ein wenig wie im Dritten Reich? Viele Deutschen haben den gewählt und unterstützt, der ihnen Wohlstand und einen Weg aus der Wirtschaftskrise versprochen hat. Wer von den Wählern und Unterstützern hätte 1933 vermutet, dass Hitler einen Krieg anzetteln würde, um seine Versprechen einzulösen oder vergessen zu machen? Nachdem das Unternehmen Drittes Reich schiefgegangen ist, um nicht zu sagen zur Katastrophe ausgewachsen ist, ist es keiner gewesen und alle waren unschuldig. Und es gab auch Profiteure, die Gewinn und Wohlstand aus der Katastrophe zogen. Wer gegen das Dritte Reich eintrat, wurde lange als Spinner oder Vaterlandsverräter verunglimpft. Darunter hatten Leute wie Marlene Dietrich ebenso wie Willy Brandt zu leiden. Auch über Menschen, die mit ihrem Leben dafür bezahlten, wurden oft mit einem Schulterzucken abgetan. Juristen, die Naziverbrechen verfolgten, hatten keinen leichten Stand in der Nachkriegszeit. Also, Herr Krökel, nehmen Sie den Mund nicht allzu voll, wenn Sie auf "die Russen" schauen – werfen Sie auch einen Blick auf das deutsche Volk, wie es mit Hitler mitmarschierte (nicht immer freiwillig) und wie schwer es sich mit der Nazivergangenheit tat und immer noch tut.
Zitat:
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es soll hier ausdrücklich nicht einem Russenhass oder idiotischen Cancel-Angriffen auf die russische Kultur das Wort geredet werden.
Bleibt die Frage Herr Krökel, warum Sie es dann im Kommentar machen?
Hab Sie eh schon seit Tagen vermisst - mit der einpeitschenden Russenphobie und darauf basierender Märchen.
Ein abscheulicher Kommentar. Spätestens jetzt müsste jeder merken, dass die hiesige Medien-Propaganda keinen Deut besser ist als das was in Russland läuft.
Eigentlich ist es unter meinem Niveau, aber einen Beweis bin ich ja doch schuldig: "Es soll hier ausdrücklich nicht einem Russenhass oder idiotischen Cancel-Angriffen auf die russische Kultur das Wort geredet werden bla bla bla" --> Jeder Rhethorik-Anfänger weiß, dass man das Unsägliche ausspricht, indem man sich vordergründig davon distanziert. In den Köpfen bleibt nämlich nur dieser Satzanfang hängen.
(edit/mod/NUB 7.2/7.3)
Dem Kommentator Krökel ist zuzustimmen: Putin hat diesen verbrecherischen Krieg begonnen, doch viele andere in Russland sind als Stützen von Putin mitschuldig. So hat der Diktator bei den Wahlen - selbst wenn man Wahlbetrug annimmt - Mehrheiten bekommen. Die Russen, die ihn gewählt haben, die ihn dulden, sind mitschuldig an diesen verbrecherischen Krieg.
Dennoch ist es richtig und nötig, nicht "die Russen" anzuprangern, sondern immer seine Unterstützer*innen zu benennen. Und es ist richtig, die Kommunikation mit Russinnen und Russen nicht abzubrechen.
Raimund Kamm
Egal welcher Krieg auf unserem Globus angezettelt wird und wurde ; er wird immer von namenlosen Sponsoren finanziert, welche nach der Zerstörung wieder als wohlgefällige Investoren in Erscheinung treten werden ! Deshalb ist jedes Kriegsrecht Menschenverachtend !
K. Brenner
Danke. Guter Kommentar.
So sehe ich es auch schon lange. Deswegen schreibe ich statt Putin auch ziemlich oft Russland. Ein Mann alleine - nicht mal in Nordkorea oder China oder ... ginge das. Deswegen glaube ich auch - wäre Putin von heute auf morgen "weg", Dutzende könnten und würden einspringen.