Das größte Auge der Welt
Im modernsten Observatorium der Erde in Chile erkunden Wissenschaftler die Geschichte des Universums. Ein Augsburger ist mittendrin.Von Rudi Wais
Von Rudi Wais
Santiago - Für Dominic Green, den als Naturfreund getarnten Bösewicht, ist es das perfekte Versteck. Mitten in einer tristen Marslandschaft wölbt sich eine futuristische Glaskuppel über einem tropischen Garten und einem Swimmingpool. In dieser luxuriösen Residenz im südamerikanischen Niemandsland, so glaubt er, ist er vor seinen Verfolgern sicher. Am Ende allerdings spürt James Bond seinen Gegenspieler doch noch auf - und setzt ihn mit einer Dose Motoröl als einzigem "Getränk" mitten in der Wüste aus.
An weniger aufregenden Tagen quartieren sich in dem imposanten Gebäudekomplex auf dem 2600 Meter hohen Paranal im Norden Chiles Wissenschaftler wie der gebürtige Augsburger Michael Sterzik ein. Von hier aus sind es nur noch ein paar Autominuten bis zum modernsten Observatorium der Erde, an dem Sterzik und seine Kollegen von der Europäischen Südsternwarte ESO jede Nacht faszinierende Blicke ins Weltall werfen.
Die unwirtliche Umgebung, die im vergangenen Jahr die Kulisse für den Showdown des neuen Bond-Films "Ein Quantum Trost" abgab, schätzen Astrophysiker als idealen Arbeitsplatz: Die Luft ist trocken, die Nächte sind klar - und weit und breit stört keine Stadt mit Leuchtreklamen und Straßenlaternen die Suche nach dem Anfang von allem.
Geschätzte 14 Milliarden Jahre ist unser Universum alt. Mit den Super-Teleskopen auf dem Paranal, sagt Sterzik, "können wir bis zu 13 Milliarden Jahre zurücksehen." Der 46-Jährige, der in München studiert und in Tübingen promoviert hat, ist einer der stellvertretenden Direktoren des Observatoriums und lebt seit elf Jahren mit Frau und Kindern in der chilenischen Hauptstadt Santiago.
Im Mythos von Zeit und Raum sind sein Spezialgebiet die so genannten braunen Zwerge: Unauffällige Objekte am Himmel, die zu wenig Masse haben, um in ihrem Kern Wasserstoff durch Kernfusion zu verbrennen. "Deshalb", sagt Sterzik, "leuchten sie nicht wie Sterne, sondern glimmen eher schwach."
Mit vier riesigen Spiegeln von jeweils gut acht Metern Durchmesser holen die Forscher der ESO schärfere Fotos aus dem All als das Weltraumteleskop Hubble - zum Beispiel dreidimensionale Ansichten von Galaxien, die mehr als sechs Milliarden Jahre alt sind. Theoretisch könnten sie einen Astronauten, der über den Mond spaziert, in einer Auflösung fotografieren, als stünde der Mann mit der Kamera zwei Meter neben ihm.
Das Observatorium auf dem Paranal, schwärmt ESO-Generaldirektor Tim de Meeuw, "ist das größte Auge der Welt". Und das passende "Ohr" kommt bald dazu: Nicht weit entfernt, auf einem 5000 Meter hoch gelegenen Plateau, entsteht ein gigantisches Radioteleskop: 80 Antennen, die buchstäblich in den Weltraum hinein "hören".
Als der junge Wissenschaftler Sterzik 1998 das Angebot bekam, nach Chile zu gehen, zögerte er nicht lange. "Es ist ja nur für drei Jahre", dachte er sich - und blieb bis heute. Es ist ein Leben zwischen zwei Welten, das er seitdem führt. Zwischen dem ESO-Sitz in der quirligen Millionenstadt Santiago und der Einsamkeit der zwei Flugstunden entfernten Atacama-Wüste, wo sich Wissenschaftler aus aller Welt in wöchentlichen Schichten an den Teleskopen abwechseln. Fernab jeder Zivilisation wird dort das Trinkwasser in Tanklastern aus 120 Kilometern Entfernung auf den Berg gekarrt, der Strom für das Observatorium, das Quartier und die kleine Unfallstation kommt aus einem eigenen Kraftwerk.
Um den mehr als 100 Mitarbeitern das Leben in der wissenschaftlichen Emigration halbwegs angenehm zu machen, gibt es Tennis- und Squashplätze, den Pool unter der gläsernen Kuppel und eine Kantine, die besonderen Ansprüchen genügen muss. Wenn hier oben, in der Trostlosigkeit der Wüste, das Essen nicht schmeckt, grinst Sterzik, "gibt es schnell Stunk".
Die eher philosophische Frage, was eigentlich am Anfang von allem stand, der liebe Gott oder eine ganz andere Kraft, stellt er sich aus naheliegenden Gründen nicht. "Wir sind Naturwissenschaftler", sagt Sterzik. "Wir arbeiten nicht mit der theologischen Fakultät zusammen."
Noch allerdings sind auch die teuren Hochleistungsteleskope der Europäischen Südsternwarte zu schwach, um das größte Rätsel der Menschheit zu lösen und im Weltraum bis zum Urknall zurückzublicken. Vier Jahrhunderte nach dem großen Galileo fehlt seinen Nachfolgern auf dem Paranal noch die astronomische Kleinigkeit von einer Milliarde Jahren.
Die Diskussion ist geschlossen.