Auf der Wartebank: Wie Obdachlose am Münchner Flughafen leben
Für viele ist der Flughafen der Ort, an dem ihr Urlaub beginnt. Für andere ist er ein Zufluchtsort. Über die schwierige Suche nach dem Schlafplatz und den schnellen Weg nach unten.
Herr Müller trägt einen akkuraten, grau-melierten Seitenscheitel, eine abgetragene Hose und schlichte Schuhe. Sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, wie die Maserung eines Pfirsichkerns. Sie zeugen von einem bewegten, harten Leben. Gebeugt schiebt Herr Müller seinen Gepäckwagen durch die belebten Gänge des Terminals 1 am Flughafen München, darauf all seine Habseligkeiten – eine abgewetzte Tasche, leere und mit Pfandflaschen gefüllte Einkaufstüten und eine Zeitung. Herr Müller möchte unauffällig bleiben. Denn er ist kein Passagier, kein Tourist. Der Flughafen München ist sein Zuhause.
Wenn Gelächter durch die Gänge des Flughafens hallt, das Geklapper von Kofferrollen zu hören ist und sich ein Sprachwirrwarr mit Lautsprecher-Durchsagen durchmischt, sitzt Herr Müller meist mittendrin. Und doch ist der Mann, der in Wirklichkeit anders heißt, ausgeschlossen. Sein Flughafen ist ein stiller, einsamer Ort.
Stefan Fratzscher, der Seelsorger des Flughafens München, und die Sozialpädagogin Christina Trappendreher nennen Herrn Müller und seine Schicksalsgenossen „Anwohner“. Es sind Menschen, die permanent am Flughafen leben, manche seit mehr als zehn Jahren. Fratzscher schätzt, dass es etwa 20 sind, für die der Flughafen einen „geschützten“ Raum darstelle. Zudem gebe es andere Obdachlose, die auf der „Durchreise“ sind, wie Trappendreher es nennt. Sie kommen aus ganz Europa und halten sich meist wenige Tage am Flughafen auf. Dort ist es warm, die Polizei bietet Sicherheit, die es so im Leben eines Obdachlosen kaum gibt. Wie viele es sind, lässt sich kaum sagen, in den letzten Jahren seien es aber mehr geworden.
2018 dürfte es mehr als 500.000 Obdachlose in Deutschland geben
Das gilt jedoch nicht nur für den Flughafen München. Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain, betrachtet die steigende Zahl Obdachloser als „signifikant für die Entwicklung in unserem Land“. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass es im kommenden Jahr mehr als 500.000 Obdachlose in Deutschland geben wird.
Aber darf man am Flughafen überhaupt wohnen? Seelsorger Fratzscher sagt, dass es sich um eine Grauzone handelt. Gegenüber den „Anwohnern“ drückt der Flughafen ein Auge zu. „Solange sie niemanden stören und weder sich selbst noch andere gefährden, werden sie nicht des Geländes verwiesen“, sagt Fratzscher. Viele Mitarbeiter, einschließlich der Polizei und der Angestellten in den Geschäften, betätigen sich als stille Helferlein. Manche stecken ihnen etwas zu essen zu oder melden den Verantwortlichen, wenn es einem der „Anwohner“ schlecht geht.
Herrn Müllers Tag beginnt und endet meist auf einer der Bänke in den beiden Flughafen-Terminals. „Dort lege ich mich gegen zehn Uhr abends zum Schlafen hin, gegen halb eins werde ich dann oft von der Polizei aufgefordert, mich woanders hinzubegeben.“ Oft wandert Herr Müller umher, kauft sich vielleicht noch eine Kleinigkeit zu essen. „Spätestens um zwei Uhr suche ich mir dann einen Schlafplatz.“ Herr Müller ist froh, dass die Bänke hier recht bequem sind. Und mit fünf Stunden Schlaf kommt er aus. Tagsüber liest er Zeitung, sammelt Flaschen, wandert umher, beobachtet den Flughafen-Alltag – und wartet. „Langeweile habe ich keine, manchmal führe ich Gespräche über Gott und die Welt mit Mitarbeitern und Passagieren. Die Zeit vergeht doch immer irgendwie.“
Das Flaschensammeln ist ein Hobby für ihn, sagt er
Christina Trappendreher, die Sozialpädagogin, sagt: „Die meisten unserer Anwohner haben einen schweren Schicksalsschlag erlebt, der sie aus der Bahn geworfen hat.“ Und dass so etwas jedem passieren könne. Deswegen haben sie und Stefan Fratzscher das Projekt „Mose“ in Kooperation mit der Flughafen München GmbH ins Leben gerufen. Ziel ist es, den Menschen wieder ein normales Leben zu ermöglichen – egal, ob in einer eigenen Wohnung oder im betreuten Wohnen. Einige der „Anwohner“ benötigen in erster Linie psychologische Hilfe. Denn nicht alle sind mittellos, manche bekommen Rente oder haben ein Einkommen, von dem sie sich Lebensmittel und Zeitungen kaufen oder die kostenpflichtigen Duschen am Flughafen nutzen.
Herr Müller wirkt unauffällig in seinen abgewetzten Jeans und der dunklen Funktionsjacke. Er fischt in einem Abfalleimer nach Pfandflaschen. Das Geld, sagt er, brauche er nicht. „Aber Flaschen sammeln ist ein guter Zeitvertreib, fast wie ein Hobby für mich.“ Dann erzählt er – dass er auf dem Bau angestellt war, gut verdiente, eine Wohnung und ein stabiles soziales Umfeld hatte. Eine persönliche Tragödie – mehr will er dazu nicht sagen – stellte von heute auf morgen sein Leben auf den Kopf. Er verlor seine Arbeit, ging pleite, wurde obdachlos. „Ich musste Abstand zu all dem gewinnen und zog umher“, sagt er. Und dass es hart war, im Winter auf der Straße zu leben. „Da kam mir die Idee, am Flughafen zu leben.“
Der Weg von der Armut in die Obdachlosigkeit ist nicht weit, sagt Sozialwissenschaftler Trabert. Schon weil der soziale Wohnungsbau in Deutschland über Jahre vernachlässigt wurde, schon weil auch das deutsche Gesundheitssystem seine Grenzen habe. Wer etwa mit Zahnlücken oder stark eingeschränktem Sehvermögen versucht, eine neue Stelle zu bekommen, merke das schnell, sagt Trabert. „Ist man erst einmal arm, bleibt man es in der Regel auch.“
Das Projekt „Mose“ soll den Anwohnern helfen, ihre Würde zu bewahren. Seelsorger Fratzscher und Sozialpädagogin Trappendreher kümmern sich so gut es geht um die „Anwohner“, aber sie haben auch noch andere Verpflichtungen. „Ein bis zwei Mitarbeiter wären eine enorme Hilfe.“ Denn ihre Arbeit braucht Zeit. „Man muss ein Vertrauensverhältnis zu den Leuten aufbauen, um helfen zu können“, sagt Trappendreher. Viele sind durch die Jahre der Einsamkeit misstrauisch geworden. „Die meisten flüchten regelrecht vor uns Seelsorgern, sie nehmen uns als Belästigung, mancher sogar als Bedrohung wahr“, sagt Fratzscher.
Die Angestellten am Flughafen kennen die Obdachlosen wie Herrn Müller
Gegen ihren Willen dürfen Obdachlose nicht in Krankenhäuser oder Psychiatrien eingewiesen werden, es sei denn, es liegt eine akute Gefährdung vor. Auch deswegen werden dringend ausgebildete Streetworker gesucht. Sie sollen regelmäßigen Kontakt zu den „Anwohnern“ suchen. Denn selbst wenn die Obdachlosen am Flughafen ein geregeltes Leben führen, setzt irgendwann das Alter oder eine Krankheit dem ein Ende. Die wenigsten sehen das ein. „Für einen Teil unserer Anwohner ist der Flughafen ein magischer Ort“, sagt Fratzscher.
Immer wieder kommen Angestellte des Flughafens vorbei, manche nicken Herrn Müller zu. „Die kennen mich hier, mit den meisten komme ich gut aus“, sagt er. Über sein Leben macht er sich keine Illusionen. „Ich bin ja selbst schuld daran, dass es anders ist. Es hätte nicht so weit kommen müssen“, sagt er und blickt seinem Gegenüber fest in die Augen. Herr Müller ist sich seiner Worte bewusst. Und er legt Wert darauf, dass er fast abstinent lebt und nur „gelegentlich“ ein „Feierabendbier“ trinkt. Bei dem Wort muss er leise lachen, es klingt abgekämpft.
Mit den anderen „Anwohnern“ will Herr Müller so wenig wie möglich zu tun haben, er sei ein Einzelgänger, sagt er. Freundschaften unter den Wohnungslosen gebe es nicht, bestätigen Fratzscher und Trappendreher. Manchmal sitzen sie beieinander oder tauschen Zeitschriften aus. Ist einer von ihnen krank oder wurde jemand länger nicht gesehen, teilen sie das schon mal dem Flughafenpersonal mit. Das Flughafengelände ist groß, dazu kommen noch die Parkdecks und die dunklen, schier unendlichen U-Bahn-Tunnel. Die Mitarbeiter können nicht überwachen, wo sich die Obdachlosen aufhalten. Darum ist es wichtig, dass sie aufeinander Acht geben, sagt Herr Müller.
Jeder hat sein Kreuz im Leben zu tragen, sagt Herr Müller
Es kommt sogar vor, dass Mitarbeiter den Besitz einiger „Anwohner“ verwahren, etwa wenn diese ins Krankenhaus müssen. Die Gepäckwagen der „Anwohner“ werden dann diskret in den Lagern und Stationen des Flughafens verwahrt. Sind die Besitzer wieder da, gehen sie zuerst akribisch ihre Habseligkeiten durch. Am Flughafen soll ja schon so manches Gepäckstück verloren gegangen sein.
Seine Besitztümer würde Herr Müller niemals jemand anderem überlassen. Er hat sie den ganzen Tag bei sich, auch wenn er mit der S-Bahn woanders hinfährt. „Das kommt aber nur sehr selten vor, es ist zu teuer für mich.“ Ob er Bitterkeit verspürt angesichts der täglichen Konfrontation mit Menschen, die genug Geld haben, in den Urlaub zu fliegen? Herr Müller schüttelt den Kopf. „Mir ist es egal, ob jemand reich oder arm ist. Jeder hat doch sein Kreuz im Leben zu tragen“, sagt er. „Aber für uns Obdachlose und andere sozial Schwache müsste die Politik viel mehr tun. Wir werden im Stich gelassen.“
Für Herrn Müller steht jedenfalls fest, dass seine Zeit als „Anwohner“ am Flughafen München dem Ende entgegengeht. Noch kann er sich keine eigene Wohnung leisten, jedenfalls nicht im Großraum München. Doch bald ist er in Rente. „Etwa vier Monate habe ich noch, dann bin ich weg hier. Mit meiner Rente kann ich mir wieder eine Wohnung leisten.“ Er sei froh, dass das „Streicherleben“ dann vorbei ist.
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