Auch die Gefahr übt ihren Reiz aus
Luis Stitzinger liebt das Abenteuer und sucht es in großen Höhen. Der 39-jährige Allgäuer ist Bergsteiger aus Leidenschaft. Doch das Risko und schlimme Erfahrungen sind seine ständigen Begleiter. Von Jörg Heinzle
Von Jörg Heinzle
München - Es war dieses Bauchgefühl, der Anflug eines Zweifels. Luis Stitzinger hatte eine unruhige Nacht im Zelt hinter sich. Er war mit zwei Freunden in der wilden Einsamkeit Nordkanadas unterwegs. Ihr Ziel: der fast 6000 Meter hohe Gipfel des Mount Logan.
"Ich hatte schlecht geschlafen, habe mich nicht hundertprozentig wohlgefühlt", erzählt er. Heute fragt er sich manchmal, ob er diese Signale hätte deuten müssen. Denn noch am selben Tag wurde die Gruppe von einer Lawine erfasst und durch eine Rinne hinabgeschleudert. Einer seiner Freunde bezahlte das mit dem Leben.
Die Gefahr wird zu einer stillen Begleiterin, wenn man sich in extreme Höhen begibt. "Leider musste ich immer wieder auch tödliche Unglücke miterleben", sagt Luis Stitzinger, 39. "Aber es ist nicht so, dass man ständig daran denkt." Er ist in Halblech im Allgäu groß geworden, wurde in eine Bergsteigerfamilie hineingeboren. Er kennt die Berge und ihre Gefahren. Deshalb sieht er sich auch nicht als Draufgänger, der mit seinem Leben spielt. Stitzinger gilt als besonnener Typ. "Der Berg ist erst bezwungen, wenn du sicher wieder unten bist" - das ist einer der Sätze, die seine Philosophie des Bergsteigens beschreiben.
Vorbereitung und höchste Konzentration sind gefordert
Dreimal stand Luis Stitzinger bisher auf Gipfeln, die über der prestigeträchtigen 8000-Meter-Marke liegen. Zuletzt am 21. Juni, als er eine Expedition erfolgreich auf den Nanga Parbat führte. Der 8125 Meter hohe Gigant im Himalaja gehört zu den schwierigsten Bergen der Welt. Just zu der Zeit, als Luis Stitzinger und seine Begleiter sich dort aufhielten, kamen ein Alpinist aus Südtirol und ein iranischer Bergsteiger ums Leben. Im vergangenen Jahr stieg Luis Stitzinger in unter zehn Stunden vom 4450 Meter hoch gelegenen Basislager des Pik Lenin auf den 7134 Meter hohen Gipfel. Und fuhr danach auf Skiern wieder hinunter. Ein Abenteuer, das gute Vorbereitung und höchste Konzentration erfordert.
Die Aura der Gefahr wirkt anziehend
Es gibt viele Theorien darüber, was Menschen dazu bewegt, sich freiwillig in solche Extremsituationen zu begeben. Die Erklärungsversuche füllen Bücherregale. Manche Autoren gehen sogar so weit, dass sie den Drang, auf hohe Gipfel zu steigen, als Ausdruck der Männlichkeit deuten. Die Aura der Gefahr und des Risikos wirke auf Frauen auch im Technikzeitalter noch immer anziehend, schreiben sie.
So weit will Luis Stitzinger nicht gehen. Den Reiz des Bergsteigens mache "eine Kombination aus ganz vielen Puzzleteilen" aus, meint er. Die scheinbar unendliche Freiheit gehört dazu, die herrliche Ruhe oder der Sonnenaufgang über einem glitzernden Gletscher. "Aber natürlich ist es auch der Gefahrenaspekt, der seinen Reiz ausübt."
Die größten Glücksgefühle erlebt der drahtige Sportler nicht, wenn er durch 90 Grad steiles Eis klettert oder sich bei Regen durch hüfthohen Schnee quält. Erst recht dann nicht, wenn er bei Sturm und Außentemperaturen von bis zu minus 40 Grad im Zelt ausharren muss. "Es klingt paradox", beschreibt er seine Gefühle am Berg, "aber wenn man die Sicherheit ein Stück weit aufs Spiel setzt, ist es am schönsten, sie hinterher wieder zu erlangen."
Um jeden Preis erkämpft sich der 39-Jährige seine Gipfel jedoch nicht. Erst kürzlich scheiterte sein Plan, den Nanga Parbat nach dem ersten Gipfelerfolg ein paar Tage später ein zweites Mal - und im Rekordtempo - zu bezwingen. Den Gipfel zum Greifen nahe, musste er umkehren, weil sonst die Zeit für eine spektakuläre Skiabfahrt über mehrere tausend Höhenmeter knapp geworden wäre. Für ihn sei der Gipfel nicht das Entscheidende, sagt er. Doch in der Öffentlichkeit, das weiß er, zählt nur das Eine: "Erreichst du den Gipfel, dann bist du ein Held. Schaffst du es nicht, bist du ein Versager."
Luis Stitzinger teilt seine Leidenschaft. Seine Freundin Alix von Melle, 37, begleitet ihn bei vielen Unternehmungen. Kennengelernt haben sich der Allgäuer und die gebürtige Hamburgerin bei einer Skitour in den Berner Alpen. Zwei Jahre später waren sie ein Paar. In den Bergen, sagen sie, sind sie sich besonders nah. Sei es abends im Zelt oder durch das Gefühl, aufeinander angewiesen zu sein. Die überstandenen Strapazen haben ihre Liebe nicht belastet, sondern gestärkt.
Zuhause bei ihnen in Höhenkirchen bei München klingelt der Wecker nicht selten schon um fünf Uhr in der Früh. Dann steigen sie auf einen der bayerischen Hausberge und sitzen später an ihren Schreibtischen in München. Er beim Bergreiseanbieter DAV Summit Club, sie beim Kletterfachverband Bayern.
Doch zu lange halten es beide nicht aus hinter den Schreibtischen. Es zieht sie hinaus in die Bergwelt.
"Im Büro werde ich mit der Zeit immer nervöser und hektischer", sagt Luis Stitzinger. "Am Berg finde ich meine Ruhe und meine Konzentration." Die Angst, einmal nicht mehr zurückzukehren von ihren Abenteuern, quält sie nicht. "Und wenn ich je am Berg sterben würde, wollte ich dort oben bleiben", sagt Alix von Melle. Man muss wohl die Weite und die Schönheit der höchsten Berge selbst erlebt haben, um diesen Satz wirklich zu verstehen.
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