Der Lazarett-Älteste
Feldartillerist Wilhelm Heider aus Pörnbach wurde in Frankreich verwundet. Er schlug sich in das Reservelazarett Ingolstadt durch. Was er erlebte, hat er niedergeschrieben.
Er ist ein braver und frommer junger Mann, aufgewachsen im ländlichen Pörnbach, eingebettet und groß geworden in bayerischen Traditionen. Es dürfte keine Frage gewesen sein, dass auch er den Beruf des Vaters erlernt und Schmied wird. Obwohl er keineswegs von kräftiger Statur ist. Dafür hat ihn sein Herrgott aber mit viel Geist, Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und einem ausgeprägten Hang zum Detail gesegnet. Nein, Wilhelm Heider ist nicht der klassische Typ, wie man sich einen grob werkenden Schwerarbeiter vorstellt.
Er schreibt gern. Vielleicht für sein Leben gern? Deshalb hat er festgehalten, was ihm als junger Soldat im Krieg und nach einer schweren Verwundung im Reservelazarett II widerfahren ist, das Bayerns Kriegsministerium wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs eilends in Ingolstadt aufbauen ließ. In den damals noch nicht ganz fertiggestellten Hallen, die eigentlich für das Reichsbahn-Ausbesserungswerk vorgesehen sind. Mitten in diese Baustelle hinein schwappen die Verwundeten in einer Flut, wie sie die Kriegsherren wenige Tage nach Ausbruch der Kämpfe so nicht erwartet haben.
Heiders Tagebuch wurde wiederentdeckt und dem Bayerischen Armeemuseum zur Prüfung angeboten. Ein 106 Seiten langes Dokument, das zunächst die ersten Kriegswochen festhält und später akribisch genau die Zustände und Abläufe im Lazarett schildert. Das Büchlein wurde überarbeitet und mit Erläuterungen angereichert. Dieter Storz hat es jetzt zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns aufgelegt.
Fast wäre der junge Soldat im Feld verblutet
Heider wird am 13. September 1891 in Pörnbach geboren. Im Oktober 1913 zieht man ihn zum Militärdienst ein. Er kommt zum 8. Feldartillerie-Regiment in Nürnberg. Nach der Mobilmachung marschiert das Regiment Richtung Frankreich und steht in Lothringen in harten Kämpfen. Am 26. August 1914 wird Heider verwundet. Ein Granatsplitter durchschlägt einen der beiden Unterarmknochen. Ein sechs Zentimeter langes Stück wird herausgerissen oder durch die Wucht regelrecht pulverisiert. Der junge Soldat wird ohnmächtig und liegt hilflos unter Toten und Verwundeten. Fast wäre er verblutet.
Was folgt, ist ein Martyrium über lange Tage. Eine Flucht vor dem Feind hin zum nächsten provisorischen Verbandsplatz, getragen von guten und verlassen von weniger guten Kameraden. Alles unter heftigen Schmerzen und nicht selten am Rande der Bewusstlosigkeit. Nach fünfeinhalb Tagen kommt er im Güterwaggon am Hauptbahnhof in Ingolstadt an. Fast in der Heimat. Reiner Zufall. Doch Pörnbach und seine Eltern wird er erst lange Zeit später wiedersehen.
Hunderte Verwundete sind mit dem Transport in dem neuen Lazarett angekommen, das eigentlich noch Baustelle ist und von den Handwerkern die nächsten Wochen über in höchster Eile wenigstens halbwegs fertiggestellt wird. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Die Verwundeten müssen auf Stroh schlafen. 2200 Mann in einem Saal. Ärzte und Ordensschwestern leisten unter schwierigsten Bedingungen und beinahe rund um die Uhr oft Übermenschliches.
Statt vom Elend schreibt der Soldat lieber vom Glück
Überall fehlt es am Nötigsten, vor allem an Verbandsmaterial und Medikamenten und natürlich Ärzten. Erst nach und nach normalisiert sich die Lage. Aber bis dahin vergehen Monate. Es müssen unvorstellbare Zustände gewesen sein.
In Wilhelm Heiders Tagebuch nimmt all das nur wenig Platz ein. Diese Dinge erwähnt er zwar, aber nüchtern und sachlich und ohne Klagen. Er schreibt viel lieber von "Glück", von "wunderbaren" Dingen und Zeiten, von "überaus guten" Menschen. Der Verwundete ist voller Dankbarkeit. Er weiß, dass er nur knapp dem Schicksal entgangen ist, das viele seiner Kameraden im Feld ereilt hat. Diese Gedanken überwiegen alles.
Auch die Pein und den Schmerz seiner Wunden. Monatelang kämpfen die Ärzte um seinen linken Arm. Immer wieder bekommt er Entzündungen und hohes Fieber. Und der Körper kann das fehlende Knochenstück nicht aus eigener Kraft neu nachbilden. Da entschließt sich ein Stabsarzt zu einer Transplantation, entfernt Heider ein Knochenstück am Schienbein und setzt es im Unterarm ein. Es ist ein Eingriff unter Bedingungen, die ein Mediziner heute nicht akzeptieren würde. Aber er gelingt. Doch Heider muss wieder viele Wochen unter heftigen Schmerzen leiden. Und als er auf dem Wege der Besserung ist, stürzt er und bricht sich das operierte Bein. Das Martyrium geht weiter. Ärzte und Kameraden leiden förmlich mit dem Mann, der längst zum Lazarett-Ältesten geworden ist.
Tausende Verwundete starben im Ingolstädter Lazarett
Am 7. Juni 1916 wird Heider entlassen. Mit einer Streckvorrichtung am Arm, tauglich geschrieben für "nur sehr leichten Dienst". Er wird in der Ersatzabteilung seines Regiments wieder in Uniform gesteckt, nach wenigen Monaten aber beurlaubt und zum 1. Januar 1917 entlassen, weil dienstunfähig ist. Der Mann mit dem verkrüppelten Arm kehrt zurück nach Pörnbach, bekommt später Arbeit in der Toerring-Brauerei, wo er sich trotz seiner erheblichen Behinderung als findiger Mechaniker den Lebensunterhalt verdienen kann. Er gründet eine Familie und baut ein Häuschen. 1966 stirbt er nach langer Krankheit.
Zurück bleibt seine Erinnerung an Krieg und Lazarett. In gestochen scharfer Handschrift und sehr genau. Stets hat er exakt das Datum und die Uhrzeit erwähnt, wenn es ihm wichtig erschien.
Über 20.000 Verwundete wurden in Ingolstadt behandelt. Tausende starben dort. Hunderte mussten wieder hinaus ins Feld, kaum auskuriert. Oder wurden amputiert ins zivile Leben zurückgeschickt, wo sie ohne Waffen weiterkämpfen mussten. Wieder ums Überleben, weil die Versorgung der Bevölkerung am Boden lag.
Eine Hymne auf Ärzte, Pflegerinnen und Ordensfrauen
Die Erinnerungsschrift ist auch eine Hymne auf Ärzte und Pflegerinnen, vor allem auf die Ordensfrauen, die den Verwundeten beistanden und neben den vielen saßen, die ihr Leben aushauchten. Und es ist eine Danknote an die Ingolstädter Frauen, Verbände und Vereine, die halfen, Essen brachten oder Feiern zu kirchlichen Festtagen organisierten.
Das wiederentdeckte Tagebuch des Schmieds aus Pörnbach lenkt den Blick dorthin, wo alle Facetten von Qual und Seelenschmerz, von Menschlichkeit und Ohnmacht zu finden waren. Lesenswert.
Das Buch: Wilhelm Heiders Erster Weltkrieg (Dieter Storz/Ansgar Reiß) - Erhältlich im Bayerischen Armeemuseum sowie über den Buchhandel. - Klartext-Verlag, ISBN 978-3-8375-1270-0.
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