Heute wird zum Jubiläum in Trier eine umstrittene monumentale Marx-Statue enthüllt. Sie, Herr Gysi, haben sicher nichts gegen die Ehrung. Aber ärgert es Sie nicht, dass die Statue als Geschenk aus China kommt? Aus dem nominell kommunistischen, tatsächlich aber diktatorischen China?
Gregor Gysi: Ein Problem, sicher. Ich war vor eineinhalb Jahren in China und habe ihnen gesagt: Ihr macht doch hier eine kapitalistische Marktwirtschaft. Und da haben sie zu mir gesagt: Wir haben Marx begriffen. Er habe gesagt, für die Industrialisierung sei der Kapitalismus zuständig. Deshalb müssen wir jetzt industrialisieren mit kapitalistischer Marktwirtschaft – und danach kann es anders zugehen… Aber Marx meinte ja nie, dass das diktatorisch organisiert werden soll! Wir müssen Marx zweimal befreien: Einmal von seinem Missbrauch im Staatssozialismus. Er war ja ein Befreiungsideologe! Und zweitens konnte er seine Arbeit nur in London leisten, weil Deutschland viel zu intolerant war. Hier wurde er verbannt. Ich möchte, dass wir ein gutes Verhältnis zu einem großen Sohn unseres Volkes, zu einem Weltdenker entwickeln. Dazu hätte auch gehört, dass wir selbst ein Denkmal gebaut hätten und es uns nun nicht gerade von China schenken lassen.
Was sollte er uns denn heute als Befreiungsdenker noch zu sagen haben?
Gysi: Er hat in seinem wichtigsten Werk, „Das Kapital“, die kapitalistische Produktionsweise hervorragend analysiert, auch die Krisen, die notwendig in Erscheinung treten und die wir heute ja auch erleben. Auch die Tendenz zur Monopolisierung. Deshalb haben wir in Deutschland ein Kartellamt, eine Monopolkommission – weltweit ist die Verhinderung von Monopolen nicht gelungen. Für die Zukunft lernen wir von Marx nicht so viel. Er hat zwar im „Kommunistischen Manifest“ mit Engels etwas Wichtiges aufgeschrieben: dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist …
… und nicht andersrum.
Gysi: Genau. Die DDR hat das immer umgekehrt zitiert, was falsch war. Und deshalb sage ich ja auch denen, die geschädigt worden sind durch den Staatssozialismus: Sie müssen eigentlich auch für die Befreiung von Karl Marx streiten. Denn er wollte genau etwas anderes als das, was ihnen passiert ist.
Was der Kapitalismus kann - und was nicht
Ein Unbehagen am ungebremsten Kapitalismus ist heute ja durchaus verbreitet. Aber der Zug der Zeit geht nicht nach links, sondern nach rechts.
Gysi: Das hat erstens damit zu tun, dass der Staatssozialismus gescheitert ist. Die Linken hatten eine Chance, die sie nicht genutzt haben, dadurch sind sie tief in den Keller geraten. Und das Zweite ist, dass wir jetzt eine Internationalisierung haben, die den Leuten unheimlich ist. Das führt dazu, dass wir jetzt den Versuch der Renationalisierung erleben. Wie im nationalen Egoismus des Herrn Trump versuchen viele, Nutznießer des globalen Handels zu werden. Das führt zu einem unsäglichen Wettbewerb, bei dem Länder die Steuern heruntersetzen, um die Konzerne zu sich zu locken – alles zu Lasten der Bevölkerungen. Das verärgert viele Menschen. Deshalb haben die Rechten im Augenblick so gute Chancen. Die Linke muss jetzt die Stärke entwickeln, zum Gegenüber der Rechten zu werden. Dann würde auch die Mitte erkennen, dass sie ohne die Linke die Rechte nicht überwinden kann.
Aber wenn Sie Marx zitieren, dass er Internationalismus im Interesse der „unterworfenen Klassen“ weltweit fordert, werden darunter viele verstehen, dass wir die Armut der Welt und noch mehr Migration zu schultern haben.
Gysi: Die Linke kann sich diesbezüglich nicht aufweichen lassen. Natürlich: Die ganze Menschheit hat in Deutschland keinen Platz. Also müssen wir wirksam die Fluchtursachen bekämpfen. Der Kapitalismus kann eine effiziente Wirtschaft, eine Top-Wissenschaft und -Forschung hervorbringen, auch eine Top-Kunst und -Kultur. Und er kann, aber muss nicht demokratisch sein, das darf man alles nicht unterschätzen. Aber er kann Kriege nicht verhindern, erstens, weil es immer um den Zugang zu Ressourcen geht, und zweitens, weil an Kriegen zu viel verdient wird, auch in Deutschland. Und er kann soziale Gerechtigkeit nicht herstellen, er tendiert immer dazu, den Reichtum in wenigen Händen zu konzentrieren und die Armut zu verbreiten. Warum etwa müssen wir Lebensmittel so billig nach Afrika exportieren, dass die afrikanischen Lebensmittel immer teurer sind und dort keine eigene Landwirtschaft entstehen kann? Das alles müssen wir überwinden.
Gysi: "Eine gottlose Gesellschaft wäre moralfrei"
Proletarier aller Länder, vereinigt euch?
Gysi: Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit waren immer schon Instrumente der Herrschenden. Warum sollte ein armer deutscher Bauer einen armen französischen Bauern totschlagen? Die Könige haben die Menschen gegeneinander aufgehetzt. Damit sie nicht auf die Idee kamen, dass sie auch ihre Könige ablösen könnten. Das Neue an Marx war auch, dass er sagte: Lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen. Und die meisten werden doch auch heute erkennen: Nicht der Franzose ist mein Problem oder die Syrerin oder sonst jemand, sondern wir müssen bestimmte ökonomische Verhältnisse verändern.
Aber wie? Sie schreiben von der Utopie einer Gesellschaft, die alle Produktionsentscheidungen gemeinsam trifft. Das könnte für manche nach Planwirtschaft klingen.
Gysi: Aber es gab in der DDR eben nie eine gemeinschaftliche Verständigung, es wurde alles zentral entschieden! Im Kapitalismus gibt es die gemeinsame Verständigung auch nicht. Wenn man mehr Verantwortung aufs Volk übertrüge, würde das auch zu einer anderen Bildungspolitik verpflichten. Denn Bildung ist Voraussetzung, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können. Auch die Reichen müssen verstehen: Wenn sie jetzt nicht für mehr Gerechtigkeit sorgen, fliegt ihnen alles eines Tages um die Ohren. Ich will die Macht der großen Konzerne und großen Banken überwinden, weil sie nichts Gutes bringt für die Menschheit. Wir brauchen darum wieder das Primat der Politik. Aber das ist nur gerechtfertigt durch demokratische Strukturen, ansonsten wäre es nur ein Primat eines Diktators. Wir müssen mit der von mir gewünschten Gesamtheit anders umgehen.
Halten Sie da Umsteuern für möglich?
Gysi: Vor 1989 hätte ich nein gesagt. Jetzt sage ich: ja! Weil ich gesehen habe, wie ein ganzes System untergegangen ist. Und auch im ungesteuerten Kapitalismus kann der Punkt kommen, wo es einfach zu viel wird. Ich setze auf die Jugend. Die ist in der Mehrheit anders, doppelt so europäisch wie meine Generation, sie könnte andere Maßstäbe setzen. Sie müsste allerdings rebellischer werden. Und letztlich: Woran soll ich sonst glauben, wenn nicht an die Vernunft des Menschen?
Sie wären sich wohl in vielem einig mit Papst Franziskus. Sind Kommunismus und Christentum also Parallelen, die sich in der Unendlichkeit treffen?
Gysi: Schon. Ich habe ja mal im Scherz behauptet, Jesus Christus wäre heute bei den Linken. Aber der würde sich ja nie in die inneren Machtkämpfe einer Partei begeben, das wäre für ihn das Letzte. Aber ein Linker wäre er ganz bestimmt. Ich glaube nicht an Gott, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft, weil sie moralfrei wäre.
Wie Trier den 200. Geburtstag von Karl Marx feiert, lesen Sie hier.