Schaffen wir es noch, uns zu konzentrieren?
Eine Warnung vor der Verzettelung im schnell und ununterbrochen schießenden Informationszeitalter
Augsburg Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie beginnen interessiert etwas zu lesen, erreichen – sagen wir mal – Zeile 15 und stellen fest, dass Sie diese 15 Zeilen inhaltlich gar nicht aufgenommen haben. Sie beginnen mit Besserungsvorsatz von vorn.
Ein Fall von gedanklicher Abwesenheit im Alltag. Wir glauben, etwas zu erfassen und zu verstehen, doch hernach stellt sich heraus: Pustekuchen!
Es liegt, nicht nur wegen dieses Beispiels, die Frage auf der Hand: Schaffen wir es noch, uns zu konzentrieren? – zumal in einer Zeit, da verdichtet und vor allem medial immer mehr auf uns einstürmt, was beachtet, eventuell beantwortet werden sollte. Viel wichtiger freilich bleibt: Lernen sich unsere Kinder noch zu konzentrieren?
Obwohl beide Fragen nicht auf den baldigen Zusammenbruch des Abendlandes zielen: Anlass und auch Gründe zu Zweifeln, dass auf beide Fragen mit frohgemuter Entwarnung reagiert werden kann, gibt es allemal.
Die Möglichkeiten sind anscheinend unerschöpflich
Öffentliche Verkehrsmittel können ein Spiegelbild dessen sein, womit sich junge Menschen beschäftigen. Ja, es gibt im Zug noch Köpfe, die sich versunken über ein Buch beugen, sich also vertiefen in Texte, die mehr als 160 Zeichen umfassen. Aber viel mehr wird in kleine Apparate geredet, geschaut und getippt. Eigentlich wird geredet, geschaut und getippt, was das Zeug hält. Dass man gerade eingestiegen sei und jetzt am Tchibo vorbeifahre, dass man in drei Minuten also tatsächlich dort sei, für wo man sich vor 27 Minuten verabredet hat! Smiley und: „Bis gleich.“
Telefon, SMS, Fotoshooting, E-Mail, Internet-Recherche, Youtube, Filme, Facebook, Computerspiele, GPS, auch das alte Radio sei nicht vergessen: Anscheinend unerschöpflich sind die Möglichkeiten auf diesem kleinen faszinierenden Smartphone, das einer – am liebsten von Apple – schon in jungen Jahren unbedingt haben muss, der nicht abseitsstehen mag.
Im Extremfall lebensrettend
Wer ließe sich unter Jugendlichen verständlicherweise nicht gerne verführen durch unbegrenzte Chancen von Kommunikation und Unterhaltung? Wer unter ihnen möchte nicht sagen: Ich bin online! Ich bin dabei! Zumal das Ding ja auch unwidersprochen praktisch, nützlich, ja im Extremfall lebensrettend sein kann – und seine Bedienung beherrscht werden sollte.
Aber ob das attraktive Gerät – bei stets aktiver „Standleitung“ ins Netz – auch der persönlichen Entwicklung hin zur Konzentration dient? Ob es mit seinem „Betriebssystem“ permanenter Abwechslung zu gedanklicher „Reifung“ führt sowie zu jener Kraft, die in der Ruhe liegt? Ob’s auch die Rekapitulation, die Reflexion, die Verarbeitung und Zukunftsplanung fördert, die zusammen notwendig werden, wenn einer über die eben eingegangene Nachricht und über den Tag hinaus sein Leben in den Griff kriegen will/muss?
Oder tragen derlei kritische Fragen tatsächlich schon den Zug des Moralinsauren in sich? Das Prinzip, das den Menschen seit Jahren ablenkend aufgedrängt wird und ihn absorbiert vor der Auseinandersetzung mit sich selbst und komplexen Zusammenhängen, dieses Prinzip ist eine Kombination aus kleinen Happen und dem geldbringenden Anbieter-Doppel-Appell: Dran bleiben! Nichts verpassen!
Der Radio-Beitrag, der nicht länger als 90 Sekunden sein soll; die interaktive Erlebnis-Ausstellung mit Tipp-Bildschirm zur beiläufigen Animation des Besuchers, vor allem der Kinder; der Kinobesuch mit rasantesten Schnittfolgen selbst bei Kinderfilmen, um immer neue Reize suggerieren und das Publikum bei der Stange zu halten; die Powerpoint-Präsentation, bei der Bild oder Grafik vereinfachend das differenzierende Wort dominieren, weil das Auge halt schneller reizbar ist als das Ohr, das zum Erfassen einer Sachlage (Er-)Klärung benötigt; und eben auch das iPhone mit seinen zig Möglichkeiten, die ganze Welt zeitgleich zu verfolgen, zu kontaktieren, zu befragen – all das sind Beispiele für jene Gefahr von Zerstreuung, Ablenkung, Aktualitätsüberflutung, die uns paradoxerweise durch ihre Verkürzungen Lebenszeit rauben können. Denn es muss ja schnell gehen, nicht sorgfältig und genau.
Wer Bücher zitiert, zitiert häufig nur die ersten Seiten
Betagt ist die Klage von Germanistik-Professoren, die nicht mehr damit rechnen können, dass ihre Studenten selbst ein Interesse an einem möglichst umfangreichen Lektüre-Repertoire mitbringen. Jünger ist die akademische Klage, dass Studenten kaum mehr in der Lage sind, längere Zeit bei der Sache bleiben zu können. Und ganz frisch ist die Untersuchung, dass Zitate in Doktorarbeiten häufig und bezeichnenderweise Zitate von den ersten Seiten der zitierten Literatur sind. Wohl auch ein Fall signifikanter Beschäftigungsabkürzung. Denn es muss ja schnell gehen.
Selbstverständlich, wir kennen Sokrates und sein einstiges Verhältnis zur Jugend. Natürlich, wir wissen, dass mit Kassandra-Rufen mehr Effekt zu machen ist als mit guten Nachrichten. Selbstverständlich gilt also auch: Das Abendland geht vorerst nicht unter; Schulabschlüsse werden weiter gebaut, Gesellen-, Meister- und Master-Prüfungen weiter bestanden.
Der Gewinn von Zeit zum Reflektieren
Aber eine Warnung vor der Gefahr, sich im ununterbrochenen Überangebot des schnell schießenden Informationszeitalters zu verzetteln, erübrigt sich nicht. Es ist heute schwieriger geworden, dicke Bretter zu bohren, einen Sachverhalt zielgerichtet zu vertiefen, sich darin zu verbeißen und „Nein“ zu sagen bei Verführung zu Oberflächlichkeit. Es ist schwieriger geworden, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, den Wald vor lauter Bäumen zu erkennen und langfristig – womöglich auswendig – zu lernen.
Mehr denn je gilt ein Ratschlag aus alter Fernsehzeit: Es gibt auch Knöpfe zum Abschalten. Die Folge: der Gewinn von Zeit, um Texte, Bilder, Eindrücke zu reflektieren. Wirkt schon mittelfristig.
Die Diskussion ist geschlossen.