Wie wir Woodstock in Bayern völlig verschlafen haben
Legenden im Schlamm: Das wirkliche Woodstock war 1969 von Augsburg sehr weit entfernt. Die Szene glaubte nicht an Led Zeppelin, sondern an Deep Purple.
Woodstock war weit weg. Noch schlimmer, hierzulande wusste man gar nicht, dass im August 1969 für ein dreitägiges Konzert 400.000 junge Menschen auf einem Maisfeld in dem kleinen Ort Bethel in der Nähe der Künstlerkolonie Woodstock zusammenkamen. Was da anderthalb Autostunden nördlich von New York City abging, gilt heute als Jugend-Manifest, als schönste Schlammschlacht, die Regen und Gewitter möglich machten. Was konnte man auch erwarten in einer Zeit, da unsere Feuilleton-Redaktionen klassische Musik hegten und deutsche Dramatiker pflegten?
Dass sich Woodstock zum Phänomen auswuchs, hat viele Gründe. Der Unternehmer und Produzent Michael Lang hatte den Riecher, dass es sich lohnt, in Pop- und Rockmusik zu investieren. Er holte sich Geld von der Wall Street und hoffte mit etwa 60.000 Besuchern, Kohle zu machen. Stattdessen stürmte die Jugend das Gelände, 400.000 Menschen machten das Fest zum Happening. Als Zäune niedergerissen wurden und die Veranstalter die Massen sowieso nicht mehr abrechnen konnten, hieß es: Eintritt frei! Es folgten ein Album, ein Film und jede Menge Mythen, die sich versilbern ließen – wovon vor allem der Mediengigant Warner Brothers profitierte.
Meine erste musikalische Begegnung mit den drei Tagen „ Frieden und Musik“ hatte ich Joni Mitchell zu verdanken. Sie schrieb die Hymne „Woodstock“, mit der Matthews Southern Comfort Anfang der 70er Jahre einen Hit in Großbritannien landeten. Crosby, Stills, Nash & Young machten daraus einen mittelprächtigen Rocker, während Joni selbst ihre Komposition wie Poesie vortrug.
Kam man in Gesprächen mit Plattensammlern auf das Thema Woodstock, erntete man im Sommer 1969 nur Kopfschütteln. Der beim Festival gefeierte Joe Cocker hatte den Beatles-Song „With a little Help from my Friends“ schon im September 1968 veröffentlicht. Die Schwester, die damals bei einer Londoner Plattenfirma arbeitete, hatte mir die Single geschickt.
Dass Led Zeppelin mit seinem Schwermetall-Mainstream nach dem ersten Album im Januar 1969 eine große Zukunft hatte, glaubten etwa die Typen aus der „Szene“ nicht und schon gar nicht Mit-Abiturienten mit Mathe-Peilung, die über die „Schlager der Woche“ des Bayerischen Rundfunks nicht hinauskamen.
Deutschland war kein Festival-Land, Augsburg war Diaspora
Die musikalische Buchführung mit Gedächtnishilfe hat mein Leben bereichert, manchmal auch verschlimmbessert. In den Beatschuppen, die sich 1968/1969 vorwiegend der schwarzen Musik verschrieben hatten, waren in Augsburg James Brown und Wilson Pickett die Könige. Eingeschworene Fans hatte der Sänger Eric Burdon, der aber den Mädchen nicht gefiel.
Wohin also mit den Hormonen des Gymnasiasten? Catherine Deneuve war ein Traum, eine Schwärmerei. Mädchen und Musik aber waren in jedem Fall eine vielversprechende Kombination. Ein Tanzwettbewerb der Pfarrei St. Elisabeth brachte Platz zwei und die Erlaubnis des Pfarrers, mit unserer Band im Keller zu spielen. Ich erinnere mich noch an „Somebody to love“ von Jefferson Airplane. Gut, dass der Pfarrer kaum Englisch konnte. Schlecht, dass ich ein grausiges Gitarren-Solo spielte. Wo der Gitarrist doch die Mädchen kriegt. Und selbst das brächte ich heute nicht mehr zustande.
Deutschland war in den Sixties kein Festival-Land, Augsburg war Diaspora. The Kinks und the Creation lieferten zwar 1967 in der Sporthalle ein Nummernprogramm ab. Highlight aber waren im Herbst 1969 Deep Purple mit dem Sänger Ian Gillan und einem Ritchie Blackmore, der demonstrierte, was man aus einer E-Gitarre rausholen konnte. Location war der Pfarrsaal von St. Moritz. Links neben der Band hing ein Kruzifix. Was wohl Jesus zu dem fulminanten Auftritt von Deep Purple gesagt hätte?
Zurück zur Woodstock-Wallfahrt. 1969 ist das Jahr, als Richard Nixon ins Präsidentenamt kommt. Fünf Tage vor Woodstock tötet Charles Manson brutal mehrere Prominente. Rolling-Stones-Gitarrist Brian Jones stirbt im Swimmingpool. Geschwächt von Drogen und von Mick Jagger und Keith Richards aus der Band geworfen. Im New Yorker Lokal „Stonewall Inn“ an der Christopher Street wehren sich die Schwulen gegen gewalttätige Polizisten. Es ist 1969, als die Amerikaner die Eroberung des Mars planen und auf dem Mond landen.
Wie naiv nimmt sich die Lebensfreude derer aus, die nackt tanzen
Der Geist von Woodstock zerfiel ideologisch, noch bevor in Altamont im Dezember ein schwarzer Besucher von den Hells Angels erstochen wurde. In Woodstock begann sofort nach Ende der Tage von Frieden und Musik das Gerangel um die wirtschaftliche Ausbeute. Wie naiv nimmt sich da die Lebensfreude derer aus, die nackt tanzen, sich in Yoga versuchen und sich mit Farmern und Händlern (kurzfristig) anfreunden. Plakate verkündeten: „Schafft ein schönes Amerika, nehmt Drogen!“
Das Album zum Konzert erschien am 11. Mai 1970. Noch erfolgreicher war der Kinofilm, der am 3. September Premiere hatte, auch bei uns. Da kannte man bereits „Soul Sacrifice“ von Santana. Jimi Hendrix zerpflückte das Star Spangled Banner, und eine kurzhaarige, schwangere Joan Baez sang ein Gewerkschaftslied.
Der Dokumentarfilmer Michael Wadleigh zeigt auf zwei- bis dreifach geteilter Leinwand das Lebensgefühl von jungen Leuten, die sich alle lieb haben. Wäre man nur dabei gewesen! Bilder, die bleiben, im Gegensatz zu vielen unpassenden und schlecht geschnittenen Show-Acts. Die baldige Vertreibung aus dem Paradies hatte sich vor Altamont schon in Woodstock angekündigt in Form der britischen Band The Who. Pete Townshend zog dem Aktivisten Abbie Hoffman die Gitarre über den Schädel. Der hatte sich auf der Bühne für die Bürgerrechtler von Chicago eingesetzt. Doch Townshend wollte lieber Werbung für die Rockoper „Tommy“ machen.
Es wäre doch bei Festivals denkbar, dass Rockmusik, bei allem Spaß, gleichsam als Instrument die Konflikte in einer Gesellschaft anzeigt. Veranstalter mögen das anders sehen. Darum hört seit 1969 Woodstock nicht auf.
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