Der Vollmond versteckt sich hinter dicken Wolken als sich die Diebestruppe Oberneufnach nähert. Die Fußstapfen von rund 50 jungen Männern rascheln im Gras. „Hat jemand Angst?“, flüstert einer der Männer in die Stille. Er bekommt keine Antwort, doch die Anspannung ist der gesamten Truppe anzumerken. Dann macht sie sich übers taunasse Feld auf den Weg ins schlafende Dorf. Noch wissen die Oberneufnacher nicht, was auf sie zukommt. Ihr Plan? Die Landjugend Weil will den Maibaum von Oberneufnach stehlen. „Das ist der längste und schwerste den wir je hatten“, kündigt Meisterdieb Georg Egen bei der Vorbereitung an.
Egen hat die Männer um 1 Uhr im Keller der Landjugend Weil versammelt. „Wir treffen uns am Christoph-Scheiner-Turm und laufen von da in den Ort“, erklärt der 22-Jährige mit ruhiger, aber lauter Stimme den Plan. „Hier haben die ihren Baum gelagert“, sagt er und deutet auf die Karte, die hinter ihm an die Wand projiziert wird.
Der gestohlene Maibaum muss durch das ganze Dorf geschoben werden
Mit bunten Markierungen ist dort ein Weg eingezeichnet. „Die einzige Möglichkeit den Baum da rauszubringen ist, ihn einmal mitten durchs ganze Dorf zu schieben“, weist Egen die Landjugend an. „Hier an der Kläranlage ist die Flurgrenze. Ab da gehört der Baum uns. Dann schieben wir ihn nach Mittelneufnach und heben ihn auf den Lader“, schließt er seine Erklärung. Die Männer nicken zustimmend und laufen zu ihren Autos.
Egen klettert neben dem Vorsitzenden der Landjugend Mario Welzmiller auf die Beifahrerbank eines weißen Kleinbusses. „Das ist eigentlich völlig hirnrissig, was wir da vorhaben“, gibt er zu. Durch ein Instagramvideo der Oberneufnacher sei die Landjugend am Vortag auf den gut 32 Meter langen Maibaum aufmerksam geworden. „Wir haben heute noch mal 45 Minuten geschaut, wie es geht, sind auch noch mal die ganze Strecke abgefahren“, erzählt Welzmiller. Die Truppe ist erfahren. Drei Maibäume hat sie schon gestohlen, den letzten im Januar aus Haunstetten.
An der Halle warten schon die „Panzerknacker“ aus Weil
An der Halle werden die Weiler bereits von ihren „Panzerknackern“ erwartet. Der Kleinste der vier hat sich durch einen Spalt hineingezwängt und das Tor von innen geöffnet. Der kunstvoll geschnitzte Maibaum steht fertig festgezurrt auf zwei Radachsen in der dunklen Halle. Routiniert verteilen sich die Männer auf beiden Seiten, legen die Hände an den Stamm und schieben. Nur die Schritte der Weiler auf dem betonierten Hallenboden und das leise Quietschen der Räder ist zu hören, als der Maibaum langsam im Hof erscheint.
Plötzlich ertönt ein Krachen. Ein Ruck geht durch den Baum. Die Weiler halten den Atem an, verharren, lauschen. Vom Hallentor aus erklingt verhaltenes Fluchen, dann ein weiterer Rumms. Angespannte Stille. Eine der Achsen hat sich am Hallentor verhakt. Mit vereinten Kräften schieben die Weiler den Baum nach links, ein wenig nach hinten. Dann ist er frei und wird in einen kleinen Feldweg gegenüber manövriert.
Schon wieder kracht es. Diesmal ist der Baum am Haus neben dem Weg angestoßen. Wieder verharren die Diebe. Doch sie haben Glück. Im Haus rührt sich nichts. Die Fenster bleiben dunkel. Es muss viel rangiert werden, um den Baum die kurvige Straße bergab zu bringen. Mit gedämpfter Stimme werden Kommandos gerufen. Ein Gullydeckel klappert verräterisch. Immer wieder werfen die Weiler bange Blicke auf die Häuser rundum. Wenn nur ein Oberneufnacher herauskommt und die Hand auf den Baum legt, ist alles vorbei.
„Achse voll einschlagen“, ruft jemand von hinten: „Ihr müsst um die Laterne rum.“ Eine letzte Ecke trennt den Maibaum von der breiten Hauptstraße. Da gehen in einem Haus bergauf Lichter an. Doch bevor jemand aus den beiden hell erleuchteten Fenstern schauen kann, sind die Weiler mit dem Baum um die Kurve verschwunden.
Kurz vor 3 Uhr ist die Flurgrenze von Oberneufnach erreicht
Eile ist angesagt. Als der Baum auf die Neufnachtalstraße abbiegt, quietscht die Achse ohrenbetäubend. Diesmal hält niemand inne. Der Weg ist breit und relativ flach. Der Baum schießt im Laufschritt vorwärts. Kurze Zeit später passieren die Weiler das Ortsschild. Nach einem Kilometer Landstraße begrüßt der Geruch der Kläranlage den Trupp um 2.52 Uhr an der Flurgrenze. „Jawohl, der Baum gehört uns", jubeln sie.
Es braucht weitere 42 Minuten, bis sie den Maibaum im nächsten Ort verladen und festgezurrt haben. Einige Weiler bringen die Radachsen zurück in die Halle. Georg Egen drückt ihnen einen Zettel in die Hand. „Bin gerade auf Reisen, hier meine neue Handynummer“, steht darauf. Dann fährt die Autokolonne mit dem Lader los Richtung Weil. Der Baum hängt hinten fast zur Hälfte über.
In Schwabmünchen treffen die Weiler auf die gefährlichste Stelle ihres Heimwegs. An der Ortsausfahrt muss der Baum einen engen Kreisverkehr passieren. Direkt neben der Straße liegt ein Autohaus. Reihen an Neuwagen funkeln auf dem Grünstreifen. Langsam nähert sich der Baum der Kurve. Die Weiler springen aus ihren Autos, rennen zum überstehenden Baumende. Als der Lader mit den Reifen auf den Bordstein gerät, kippt der Baum ruckartig nach außen. In letzter Sekunde können die Männer sich gegen den Stamm stemmen und den Zusammenstoß verhindern. „Das wäre fast ein teurer Maibaum geworden“, bemerkt Welzmüller als er wieder im Auto Platz nimmt.
"Sauber Georg", freuen sich die Maibaumdiebe aus Weil
Kurz nach 5 Uhr kommt der Baum schließlich vor einer Halle in Weil zum Stehen. „Sauber Georg“, rufen die Weiler, die für ein Gruppenfoto aus ihren Autos steigen. „Da haben wir uns viel zu viel Sorgen gemacht mit den Engstellen“, kommentiert Egen zufrieden. Die Wolken im Osten färben sich langsam pink, doch einige Weiler bleiben noch.
Am Telefon hätten sich die Oberneufnacher am Morgen beeindruckt gezeigt, berichtet Egen. Beim Verhandeln einigt man sich auf 200 Liter Bier, Frühschoppen inklusive Weißwürste und eine musikalische Begleitung des Musikvereins Oberneufnach. „Uns geht es darum, mit den anderen zusammenzukommen und gemeinsam Spaß zu haben“, erklärt Egen. Zurückbringen wollen die Weiler den Baum noch am selben Abend, damit er wie geplant aufgestellt werden kann.