
Jubiläum: Seit 100 Jahren hält Reinz aus Neu-Ulm Autos dicht

Plus Der weltweit größte Hersteller von Flachdichtungen aus Neu-Ulm feiert in schwierigen Zeiten Geburtstag. Ein Blick auf die Wurzeln, die in Berlin zu finden sind.

Schwierige Zeiten kannte auch der Gründer von Reinz: Mitten in der Weltwirtschaftskrise stürzt sich Hugo Reinz am 31. Dezember 1920 in Berlin-Charlottenburg in die Gründungsphase eines Großhandels für Eisenbahn- und Industriebedarf, die Keimzelle des heutigen Unternehmens, das dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiert. In einem Jahr, in dem so gut wie jedes Unternehmen von der Corona-Krise gebeutelt wird.
Zur aktuellen Lage möchte sich die Firma Reinz nicht äußern
Deswegen schaut das Führungsduo um Frank Bader und Olivier Lassurguère lieber zurück als nach vorne. Zur aktuellen Lage möchte sich Reinz nicht äußern. Dabei hat das Unternehmen durchaus eine Zukunft jenseits der Zylinderkopfdichtungen von Verbrennermotoren: Seit dem Entwicklungsstart von metallischen Bipolarplatten im Jahr 2001 gilt Reinz als ein Vorreiter für Innovationen im Bereich der Brennstoffzellentechnologie.
Seit 1947 befindet sich der Firmensitz in der Steinhäule in Neu-Ulm und gehört mit über 1300 Mitarbeitern zu den größten und bekanntesten Arbeitgebern der Region. Seit 1993 ist Reinz ein Tochterunternehmen der US-amerikanischen Dana mit 36.000 Beschäftigten auf sechs Kontinenten.
Mitten in der Wirtschaftskrise startet Reinz in Berlin als Großhandel für Eisenbahn- und Industriebedarf
Doch die Firmengeschichte des weltweit größten Herstellers von Flachdichtungen in Neu-Ulm beinhaltet neben dem US-Kapitel auch preußische Aspekte. Die Anfangsjahre in Berlin-Charlottenburg schildert eine Firmenchronik: Mitten in der Weltwirtschaftskrise stürzt sich Hugo Reinz am 31. Dezember 1920 in Berlin-Charlottenburg in die Gründungsphase eines Großhandels für Eisenbahn- und Industriebedarf, die Keimzelle des heutigen Unternehmens. Kurz darauf beginnt er mit der Fabrikation für Flachdichtungen. Die ersten Kunden sind die schnell expandierende Flugzeugmotorenindustrie und etwa 65 Firmen, die sich auf die Herstellung von Motorfahrzeugen spezialisiert haben. Die Produkte: Flachdichtungen für statische Anwendungen, hergestellt aus ölgetränktem Papier, Asbestpappe, Gummiasbest und Asbestgewebeplatten.
Bereits 1922 plant Hugo Reinz trotz der angespannten Weltwirtschaftslage, ein eigenes Fabrikgelände in Berlin-Spandau zu beziehen, da die Nachfrage nach seinen ersten asbesthaltigen Dichtungen massiv anzieht.
Anfang der 20er-Jahre beginnen die Motorenbauer, die Vollblockbauweise zu verlassen. Hugo Reinz, der erfahrene Kaufmann und „geniale Konstrukteur“, wie er in der Chronik genannt wird, erkennt, dass die Abdichtung des nun getrennten Motorblocks und Zylinderkopfs mehr und mehr in den Vordergrund rückt.
Hugo Reinz macht sich schnell in der Automobilindustrie einen Namen
Die Überverdichtung der neuen Motoren für noch höhere Leistungen verlangt eine zuverlässige Abdichtung. Hugo Reinz nimmt sich dieser Herausforderung an und erregt mit einer Reihe konstruktiver Neuentwicklungen viel Aufsehen. Der Berliner geht deswegen schon bald in allen Versuchsabteilungen und Konstruktionsbüros der deutschen, österreichischen, tschechischen und französischen Automobilindustrie ein und aus. Im Jahr 1929 wird in den neuen Fabrikationshallen in Berlin-Spandau mit der ersten Serienproduktion neuartiger, patentierter Gewebedichtungen begonnen. Die bis dahin den Markt beherrschende Kupfer-Asbest-Dichtung wird vom Markt verdrängt – und damit auch einige Konkurrenten. Auch die legendären Silberpfeile von Mercedes-Benz gewinnen mit Reinz-Dichtungen ihre Rennen.
Dann kam der Krieg: Der Firmengründer Hugo Reinz wird tödlich verletzt und sein Werk fällt in Schutt und Asche. Im Mai 1945 steht ein kleiner Kreis von Mitarbeitern vor dem kläglichen Rest eines großartigen, 25-jährigen Erfolges der deutschen Automobilgeschichte – unter ihnen der Industrielle und engste Berater von Hugo Reinz, Rudolf Rzehulka.
Dieser trifft eine grundlegende Entscheidung, als er 1947 seine Unterschrift unter einen Mietvertrag der staatlichen Vermögensverwaltung über ein Grundstück in der Donaustadt Neu-Ulm setzt, dem heutigen Firmensitz. Eine weitsichtige Entscheidung, weil das Abgeschnittensein von ausländischen Rohstoffquellen während der Berlinblockade die Entwicklung neuer Dichtungsmaterialien unmöglich zu machen droht.
Der heutige Firmensitz entsteht auf dem ehemaligen Pionierübungsgelände an der Donau
Auf dem ehemaligen Pionierübungsgelände an der Donau beginnt Rzehulka 1947 auf dem rund 40.000 Quadratmeter großen Grundstück das Werk aus dem Boden zu stampfen. Bereits Ende 1948 liefert das neue Werk die ersten Seriendichtungen und ist ein Jahr später Alleinlieferant bei VW und Mercedes-Benz. Heute sind nach Firmenangaben nahezu alle bekannten Marken und Modelle der Automobilhersteller weltweit mit Dichtungen von Reinz für den Motoren- und Abgasbereich ausgerüstet. Längst wird an Lösungen jenseits von Verbrennungsmotoren gearbeitet. Reinz gilt als Vorreiter für Innovationen im Bereich der Brennstoffzellentechnologie.
Dana investierte 2018 rund 13,5 Millionen Euro in den Standort Neu-Ulm. Die Anlagen für die Produktion von Zylinderkopfdichtungen und Getriebeplatten sollen auch zur Herstellung von Bauteilen für batterie- oder brennstoffzellenbetriebene Elektrofahrzeuge genutzt werden können. Olivier Lassurguère gibt sich in einer Mitteilung optimistisch: „Die Reinz-Dichtungs-GmbH hat auch zukünftig das Ziel, für weitere 100 Jahre einer der weltweit führenden Automobilzulieferer zu sein.“
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