Die Lizenz zum Geldausgeben
Die deutsche Staatskasse ist so gut gefüllt wie nie zuvor. Experten raten daher dringend zu Investitionen. Doch gleichzeitig verliert die Wirtschaft bereits jetzt an Tempo
Straßen, Schulen, schnelles Internet – Bedarf zum Investieren hätte der deutsche Staat reichlich. Und auch das Geld dazu: Deutschland hat trotz der Konjunkturabschwächung so viel Geld in der Kasse wie nie zuvor. Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen nahmen im vergangenen Jahr unter dem Strich 58 Milliarden Euro mehr ein, als sie ausgaben, wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Es war der höchste Überschuss seit der Wiedervereinigung.
Doch auch der Stabwechsel im Bundesfinanzministerium von der CDU zur SPD hat an einem Grundsatz nichts geändert: An der „schwarzen Null“, also einem Haushalt ohne neue Schulden, soll nicht gerüttelt werden. Nicht jeder findet das klug. Der Internationale Währungsfonds (IWF) beispielsweise fordert Deutschland seit langem dazu auf, mehr zu investieren – etwa in Infrastruktur und Fachkräfte. Das Credo der IWF-Experten: Eine Volkswirtschaft wie Deutschland mit sprudelnden Steuereinnahmen und gewaltigen Exportüberschüssen müsse ihre Stärke nutzen, um sich auch für wirtschaftlich schwächere Zeiten zu rüsten.
Die Wirtschaft pocht auf milliardenschwere Steuerentlastungen für Unternehmen. Deutschland sei mittlerweile von einem Hochsteuerland zu einem Höchststeuerland geworden, kritisierte jüngst der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf. Ähnlich sieht das auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). „Mit der hohen Steuerbelastung für Unternehmen drohen wir im internationalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten“, fürchtet DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben.
Carsten Brzeski, ING-Chefvolkswirt Deutschland, meint: „Die Rekordzahlen sind eigentlich eine Lizenz zum Investieren beziehungsweise Ausgeben.“ Brzeski argumentiert: „Inländische Investitionen sind nicht nur langfristig notwendig, sie könnten auch aktuell das beste Rezept gegen die sich abzeichnende konjunkturelle Abkühlung sein. Einfacher geht es eigentlich nicht.“
Auch die FDP kritisiert die Sparpolitik von Finanzminister Olaf Scholz. „Wir müssen uns endlich wieder der Frage zuwenden, wie wir unseren Wohlstand auch in der Zukunft erwirtschaften können“, sagt Wolfgang Kubicki, stellvertretender Vorsitzender der Liberalen, unserer Redaktion. „Hierfür müssen wir zu einer vernünftigen Investitionspolitik zurückkehren. Wir brauchen eine intakte Verkehrs-, Daten- und Kommunikationsinfrastruktur.“ Dies habe die Bundesregierung seit Jahren vernachlässigt. Kubicki warnt eindringlich: „Wenn wir hier nicht schnell umschalten, werden wir den Abstieg Deutschlands aus der Weltspitze erleben.“ Kritik übt er hingegen an den Plänen der SPD, den Sozialstaat zu stärken. „Dass Scholz wegen der schwächelnden Konjunktur von den Kabinettskollegen Haushaltsdisziplin einfordert, seine Partei davon aber unberührt milliardenschwere Versprechungen macht, hat mit Seriosität und Glaubwürdigkeit nicht mehr viel zu tun“, sagt der FDP-Vize. „Der Eindruck verfestigt sich, dass die SPD haushaltspolitisch getreu dem Motto ‚nach uns die Sintflut‘ verfährt, um die eigenen Umfragedaten vor der Europawahl zu verbessern.“
Tatsächlich zeichnen sich bereits dunkle Wolken am Horizont ab: Angesichts handelspolitischer Stürme und der Unwägbarkeiten des Brexits dürfte die exportorientierte deutsche Wirtschaft Ökonomen zufolge in diesem Jahr weiter an Tempo verlieren. Die Sorgen in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft jedenfalls wachsen: Das Ifo-Geschäftsklima sank auf den niedrigsten Stand seit Dezember 2014. „Die Drohung der USA mit Strafzöllen auf unser wichtigstes Exportgut – Autos – schwebt konkreter denn je im Raum“, erläutert KfW-Chefvolkswirt Jörg Zeuner. Der Geldregen für den Fiskus könnte also bald nachlassen.
Der Staat profitierte im vergangenen Jahr von sprudelnden Steuern und Sozialbeiträgen, auch dank der historisch guten Lage auf dem Arbeitsmarkt. Hinzu kam ein deutlich gestiegener Bundesbankgewinn, der an den Fiskus geht. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung lag der Überschuss bei 1,7 Prozent. In einer ersten Schätzung waren die Statistiker sogar von einem Plus von 59,2 Milliarden Euro ausgegangen.
Deutschland erzielte das fünfte Jahr in Folge einen Überschuss und ist damit weit entfernt von der Defizit-Grenze des Maastricht-Vertrages. Darin erlauben sich die Europäer höchstens ein Haushaltsdefizit von 3,0 Prozent der Wirtschaftsleistung. Ein – wenn auch minimales – Minus hatte Deutschland zuletzt 2013 verbucht. Ökonomen halten Deutschland zugute, beim Thema Schulden in den vergangenen Jahren als „eines der wenigen Länder eine echte Trendwende geschafft“ zu haben. Das Gegenbeispiel ist Italien: In absoluten Zahlen hat die drittgrößte Euro-Volkswirtschaft mit rund 2,3 Billionen Euro den höchsten Schuldenberg in Europa – mehr als 130 Prozent des BIP. Die Euro-Stabilitätsregeln erlauben höchstens 60 Prozent Verschuldung.
Das höchste Plus wies mit 17,9 Milliarden Euro der Bund auf. Auch Sozialversicherungen, Kommunen und Länder erzielten Milliardenüberschüsse. Die Konsumausgaben der Verbraucher legten leicht zu (plus 0,2 Prozent). Die Konsumausgaben des Staates, zu denen unter anderem Gehälter der Mitarbeiter zählen, stiegen deutlich (plus 1,6 Prozent). (bju, dpa, AZ)
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