Widerspruchslösung: Die Regierung will das System der Organspende umkehren. Es ist ein massiver Eingriff – und trotzdem ist er notwendig.
Es ist ein Akt der Solidarität, wie er größer nicht sein könnte: Im Moment des eigenen Todes schenke ich einem anderen Menschen ein neues Leben. Einem Fremden. Ohne Gegenleistung. Ohne die Aussicht auf persönliche Dankbarkeit. Es gibt wohl wenige Themen, die sensibler sind und die tiefer ins Persönliche, ins Existenzielle eingreifen, als es das Thema Organspende vermag.
Da ist die Furcht vor dem, wie weit Ärzte gehen würden. Die Unsicherheit, wie die Hinterbliebenen in der Stunde des Abschieds damit fertig werden. Religiöse Vorstellungen, menschliche Egoismen, dubiose Halbwahrheiten. Es ist eine Mischung aus Gefühltem, aus Befürchtetem, aus nüchternen Zahlen, die die Entscheidung für oder gegen das Spenden eines Organs so schwierig macht.
Ausgerechnet diesen sensiblen Prozess möchte die Politik nun beschleunigen, indem sie das System auf den Kopf stellt. Die bislang praktizierte Lösung, dass jeder Einzelne der Organspende aktiv zustimmen muss, könnte bald ersetzt werden durch die sogenannte Widerspruchslösung: Nur wer aktiv Einspruch einlegt, gilt nicht als Organspender. Oder anders gesagt: Wer nicht Nein sagt, sagt Ja – Enthaltungen gibt es nach diesem Prinzip nicht mehr.
In Spanien zeigt das neue System Wirkung
Die Politik reagiert damit auf ein Paradoxon: Mehr als 80 Prozent der Deutschen haben Umfragen zufolge eine positive Haltung zur Organspende – aber nur 36 Prozent besitzen einen Organspenderausweis (davon wollen 72 Prozent ihre Organe spenden).
Einen Teil der Schuld an diesem Dilemma trägt zum einen die Ärzteschaft selbst. Mit einem Skandal hat sie das ohnehin nur mit einem dünnen Firnis überzogene Vertrauen arg angekratzt. Wenn es um Leben und Tod, um Herz und Nieren geht, ist die Toleranz nun mal schnell aufgebraucht. Doch es sind eben auch Desinteresse und Ignoranz und eine gehörige Portion Unlust, sich mit dem eigenen Ableben zu beschäftigen, die so viele davon abhält, einen Organspenderausweis zu unterschreiben. Das würde die Widerspruchslösung ändern.
Dass die funktionieren kann, zeigt sich in anderen Ländern. Europaweit führend ist Spanien mit 46,9 Spendern pro eine Million Einwohner im Jahr. Dort gilt die Widerspruchslösung, genau wie in Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg, Österreich und Frankreich.
Ersatzteillager? Was für ein Zynismus
Aber darf die Politik das? Darf sie Bürger zum moralisch erwünschten Verhalten drängen? Darf sie uns zwingen, ein Ziel zu erreichen, das sie mit Aufklärungskampagnen verfehlt hat? Sie muss!
Denn das Leben der 10.000 Schwerkranken, die auf den Wartelisten für eine Transplantation stehen, darf nicht von der mangelnden Motivation der Mehrheit abhängen. Niemand muss ein Organ spenden, er muss noch nicht einmal eine Begründung liefern.
Die Freiheit, über den eigenen Körper zu entscheiden, darf nicht angetastet werden – aber jeder muss für einen kurzen Moment nachdenken und seinen Willen kundtun. Es ist ein fairer Deal. Der Mensch wird damit keineswegs zum Ersatzteillager degradiert. Alleine die Wortwahl offenbart einen massiven Grad an Zynismus.
Und doch ist es mit einem neuen Gesetz nicht getan. Ohne Vertrauen in die Transplantationsmedizin wird es nicht gehen. Nur massive Aufklärung kann zu einer verantwortungsbewussten Entscheidung überhaupt erst befähigen. Potenzielle Spender dürfen nicht das Gefühl haben, dass der Staat sie überlisten möchte.
Bislang dominieren auf der einen Seite Horrorszenarien, auf der anderen Seite moralische Erpressungen. Beides schürt das Unbehagen. Nicht nur die Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen – auch Politik und Medizin müssen zulegen. Solidarität gilt für alle Beteiligten.
Die Diskussion ist geschlossen.
Die AZ kann sich glücklich schätzen, Sie , Frau Hufnagel, als Journalistin und Kommentatorin in ihren Reihen zu haben.
Auch bei diesem Kommentar, dem man ja nicht in allen Punkten zustimmen muss, wird klar, welches Format hier erkennbar wird.
Manch einer hat sich in seinem Leben über die Problematik Gedanken gemacht. Zu der gehört ja auch das Thema Vertrauen. Und hat sich dann, eben nicht aus Ignoranz sondern aus wohlbedachten anderen Gründen, gegen eine aktive Freigabe des Eigenen entschieden.
@Maja S. :
ein wunderbarer Beitrag!
Dem Auftakt Ihres Leitartikels kann ich problemlos zustimmen, auch wenn ich bezüglich der Widerspruchslösung eine gegensätzliche Auffassung vertrete.
Was aber aus meiner Sicht gar nicht geht, ist die Kategorisierung als ‚Ersatzteillager Mensch‘ für den Anspruch des Staates auf Verwendung von Organen, bei denen Verstorbene nicht ausdrücklich widersprochen haben als zynisch zu bezeichnen.
Denn genau dazu würde der menschliche Körpger gemacht. Ein Geschenk, wie Sie das Freigeben von Organen noch eingangs bezeichnen, ist eben etwas völlig Freiwilliges und nichts, was kassiert wird, wenn sich jemand nicht dagegen wehrt. Ebenso eine Spende, wie das Organvermächtnis ja üblicherweise genannt wird.
Auch wenn ein Widerspruch möglich ist und akzeptiert wird, so haftet ihm doch ein Akt der Unsolidarität an. Er wird als egoistisch und moralisch verwerflich betrachtet werden, es gibt nicht wenige Menschen, die Widersprechern (bislang denen, die keinen Organspendeausweis besitzen) ein Organ verweigern wollen.
Der nächste Schritt wird sein, dass sich die Bevölkerung als Knochenmarkspender zur Verfügung zu stellen hat – es sei denn es sprechen wichtige medizinische Bedenken dagegen. Alles doch nur mit dem ausdrücklichen Wunsch, Gutes tun, Leben retten zu wollen.
Im Fall der Organspende bleibt aber zu beachten, dass für eine Spende immer erst ein anderer Mensch sein Leben verlieren muss und dass die zwangsläufige Hoffnung darauf, zwar verständlich aber weitaus zynischer ist als der Begriff des Ersatzteillagers, der ja erst durch einen formulierten Anspruch auf Organe zum Tragen kommt.
Die Medizin würde meiner Überzeugung nach OHNE Organspenden schon viel weiter sein in ihren Anstrengungen, für kranke, nicht mehr leistungsfähige Organe alternative, bessere Lösungen zu finden. Denn dass der Körper fremde Organe gar nicht so sehr schätzt, zeigt er durch die Abstoßreaktionen, die ein Leben lang durch Medikamente unterdrückt werden müssen.
Darüber sollte man in dem Kontext auch nachdenken
(Ich habe gerade in meinem Organspendeausweis nachgesehen - er ist von 2003)