Obdachlose sind die unsichtbaren Verlierer der Pandemie
Hohe Infektionsgefahr, Einsamkeit und Geldnot: Obdachlose Menschen trifft die Pandemie besonders hart. Ein Besuch im Münchner Bahnhofsviertel.
Bernd kannte den Toten im Hofgarten. „Armer Hund, ist im Suff erfroren“, sagt er. Anfang Februar war das, Freunde von Angel S. hatten zuvor noch eilig den Notarzt gerufen. Da aber war das Herz des 59-jährigen Bulgaren bereits stehen geblieben. Mitten in der Münchner Innenstadt, mitten am Tag. „Der war obdachlos, genau wie ich“, sagt Bernd, während er hinter dem Hauptbahnhof Gulaschsuppe aus einem Pappbecher löffelt.
Die Fußgängerzonen sind leer, auch Pfandflaschen gibt es kaum
Neben Angel S. sind in diesem Corona-Winter 21 weitere Menschen in Deutschland auf der Straße erfroren. „Das ist die höchste Zahl seit Mitte der 90er Jahre“, sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe. Über die Gründe dafür kann sie nur mutmaßen. „Es ist möglich, dass einige aus Angst davor, sich in den engen Sammelunterkünften mit Corona anzustecken, draußen geblieben sind.“ In Deutschland müsse niemand auf der Straße leben, so heißt es oft. Dennoch sind in der Bundesrepublik laut Schätzungen der Wohnungslosenhilfe 41.000 Menschen dauerhaft ohne Obdach. Und spricht man mit Sozialarbeitern, Ehrenamtlichen und Betroffenen – dann wird deutlich: Für kaum eine Gruppe hat sich das Leben in der Corona–Krise so sehr verschlechtert wie für Obdachlose.
Bernd ist ein stiller Verlierer der Pandemie. Ein schlaksiger Mann Anfang 50 mit ausgefranster Anglerweste und freundlichen Augen. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen, und auch nicht, wie er vor über 15 Jahren auf der Straße landete. „Gerade ist es schwer, Patte zu machen“, sagt Bernd, während er eine mit Flaschen gefüllte Aldi-Tüte auf seinen klapprigen Rollwagen hievt. Geld verdiente er vor der Pandemie hauptsächlich mit Betteln und dem Sammeln von Pfandflaschen. Jetzt aber stellt er seinen Becher in leere Fußgängerzonen. Die leeren Augustinerflaschen, die feiernde Jugendliche in der Innenstadt stehen lassen, gibt es kaum. Bernd sagt: „Ich komme schon über die Runden. Für andere auf der Straße ist es schwerer.“
Viele Obdachlose sind gänzlich vom Radar der Öffentlichkeit verschwunden
Obdachlose lebten schon vor der Pandemie im toten Winkel der Gesellschaft. Jetzt sind viele von ihnen gänzlich vom Radar der Öffentlichkeit verschwunden. Dabei verlieren in dieser Krise gerade die am meisten, die am wenigsten haben. In einigen deutschen Kommunen gehe es zum Beispiel in den Notunterkünften extrem eng zu, sagt Rosenke von der Wohnungslosenhilfe. „Mancherorts müssen die Menschen zu acht in einem engen Zimmer übernachten.“ Viele seien älter, hätten Vorerkrankungen und blieben aus Angst vor einer Infektion auf der Straße.
Jurij, 48, Boxerschnitt und verblichene Lederjacke ist einer von denen, die es in den Sammelunterkünften nicht lange aushielten. Er sei viel rumgekommen in Deutschland, erzählt er zwischen zwei Schlucken aus dem Flachmann. Berlin, Frankfurt, Hamburg – immer auf Achse, immer auf der Suche nach Arbeit. Die Lage in den Obdachlosenunterkünften, sagt er, sei oft schlimm gewesen. „Da gibt’s Krankheiten, die ihr alle für ausgestorben haltet.“ Dazu noch die Schlägereien und der Streit, wenn wieder einer besoffen Stress gemacht habe.
Wegen Corona mussten und müssen viele Beratungsstellen ihr Angebot reduzieren
Vielen bleibt nur die Straße. Und dort fehlen aktuell die freundlichen Gesichter und die dazugehörigen Einrichtungen, die der Tristesse der Obdachlosigkeit vor Corona ein wenig Farbe verliehen hatten. Viele Beratungsstellen mussten und müssen wegen des Infektionsschutzes noch immer ihr Angebot reduzieren. Aufenthaltsräume bleiben geschlossen oder haben nur zeitweise geöffnet. „Die zuvor schon begrenzten sozialen Kontakte werden noch weniger“, sagt Rosenke. Die psychischen Auswirkungen seien ein riesiges Problem.
Wie groß die Sehnsucht nach ein bisschen Nähe ist, können Barbara Thoma und Bettina Spahn von der Münchner Bahnhofsmission berichten. Hier – in den engen Büroräumen am Rande von Gleis 11 – landen Menschen, die an anderen Orten keine Zuflucht mehr finden. Die zur Ruhe kommen wollen, aber keine eigene Wohnung haben. Einen Steinwurf entfernt liegt ein Fünfsternehotel, auf der Bayerstraße vor der Bahnhofsmission rollen schwere Mercedes G-Klassen im Berufsverkehr. Arm und reich liegen in dieser Stadt nah beinander.
Die Münchner Bahnhofsmission hat seit Pandemie-Beginn durchgehend geöffnet
Die Zahl derer, die die Münchner Bahnhofsmission im Jahr 2020 aufsuchten, hat sich im Vergleich zu 2019 beinahe verdoppelt – von 117.693 auf 207.788. Fünf Mal am Tag werden hier Essen, Trinken und Hygieneartikel durch die Luke an der Eingangstür gereicht. Kräutertee, Kaffee, Schmalzbrote oder Zahnpasta. Oft reicht schon ein gutes Wort oder ein Lachen.
Anders als andere Einrichtungen hat die Bahnhofsmission seit Beginn der Pandemie durchgehend geöffnet. So bekamen die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter in Beratungsgesprächen mit Obdachlosen früh eine weitere Tücke der Krise zu Gesicht: Weil viele Behörden und Ämter nur eingeschränkt erreichbar waren und noch immer sind, verzögern sich Prozesse. Da geht es zum Beispiel um das Einreichen wichtiger Anträge. Arbeitslose müssen länger auf Vorstellungsgespräche warten. Drogenabhängige auf Klinikplätze. Sozialhilfeempfänger auf Geld, das sie dringend bräuchten. Für sie ist Corona ein schwarzes Loch, das Perspektiven schluckt.
Wer auf der Straße lebt, hat keine Lobby
Dann sind da noch die ganz alltäglichen Fragen im Leben eines Menschen, der keine Bleibe hat. „Ich würde schon gerne öfter duschen und meine Hände waschen“, sagt Bernd, während er sein Spiegelbild im Schaufenster eines Klamottengeschäfts betrachtet. Viele Sanitäranlagen seien aktuell dicht. Wenigstens FFP-2-Masken und Desinfektionsmittel gebe es, etwa bei der Bahnhofsmission. „Ich will mich und andere ja schützen“, sagt Bernd noch, bevor er mit seinem wackligen Wagen im Straßendschungel verschwindet. „Aber wie soll ich zu Hause bleiben, wenn ich kein Zuhause habe?“
Wer auf der Straße lebt, hat keine Lobby. Viele Aspekte der Pandemie seien für Obdachlose nicht vorausschauend geplant worden, sagt Rosenke. „Gehandelt hat die Politik oft erst, wenn das Problem auf dem Tisch lag.“ Einige Fragen wurden lange nicht gestellt. Zum Beispiel: Was, wenn ein Obdachloser nach Beginn der Sperrstunde noch draußen unterwegs ist? Die Münchner Polizei teilt auf Nachfrage mit: „Die Ausgangsbeschränkungen und -sperren gelten primär für Personen, die Wohnungen haben. Wer keine Wohnung hat, auf den sind diese Bestimmungen auch nicht anwendbar.“
Gute Nachricht: Die Impfkampagne für Obdachlose läuft endlich vielerorts an
Hat die Bundesregierung in der Pandemie genug getan für obdachlose Menschen? „Nein“, sagt Pascal Kober. Der 49-Jährige sitzt für die FDP im Bundestag. Zwar lägen die sozialen Aufgaben in diesem Bereich rein formal vor allem bei den Kommunen. „Hubertus Heil könnte sein Amt als Sozialminister aber auch anders definieren. Etwa, indem er öffentliches Verständnis und ein Bewusstsein vor Ort für die Notsituation weckt“, betont Kober. Man hätte sich zum Beispiel auch darüber informieren können, wie es den Obdachlosen und ihren Helfern überhaupt gehe. „Der Minister hat jedoch alle Versuche, das Problem der Obdachlosen zu thematisieren, abtropfen lassen. Er hat sich weggeduckt und auf seine formale Nichtzuständigkeit zurückgezogen.“
Eine gute Nachricht gibt es dann aber doch. Nachdem sie lange ins Stocken geraten war, läuft die Impfkampagne für Obdachlose nun in vielen deutschen Städten endlich an. Der bevorzugte Impfstoff dabei ist der von Johnson & Johnson – weil er nur einmal gespritzt werden muss, was die Terminvereinbarung natürlich erleichtert. „Die Impfbereitschaft bei Wohnungslosen ist sehr hoch“, sagt Rosenke von der Wohnungslosenhilfe. „Möglichen Nebenwirkungen sehen die meisten gelassen entgegen.“ Denn Gefahren gebe es auf der Straße schließlich jeden Tag genug.
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Die Diskussion ist geschlossen.
Wichtig ist aber dass der Zigeunerbach umbenannt wird. Bezüglich Probleme muss man sich halt Prioritäten setzen...
Es ist nicht seit heute sondern seit Jahrzehnten ein Skandal. Die Obdachlosen schlafen auf der Straße, weil die Sammelunterkünfte teilweise menschenunwürdige Bedingungen bieten. Gäbe man 50.000€ pro Obdachlosen aus, um die Wohnbedingungen zu verbessern, wäre das Problem mit ca. 15 Millionen Euro erledigt. Wenigstens 6 Quadratmeter Privatsphäre pro Mensch wären das mindeste. Für sinnlosen Luxus wie Bahnhofstunnel und Theatergebäude gibt die Stadt das Geld mit vollen Händen aus.