Die Helden von Fukushima
Ein kleiner Trupp von Technikern versucht, den Super-GAU im Kernkraftwerk zu verhindern. Man kennt weder ihre Namen noch ihre Gesichter.
Sie haben eine Aufgabe, wie man sie sonst nur aus Hollywood-Filmen kennt. Wahrscheinlich ist es die gefährlichste Mission, die man sich in diesen Tagen vorstellen kann. Vielleicht eine „Mission Impossible“. Sie müssen einen Kampf unter extremen Bedingungen führen. Explosionen, Brände, radioaktive Strahlung: Wenn man so will, müssen die Männer nichts weniger als die Welt vor dem Super-GAU im Kernkraftwerk Fukushima retten. Von 50 Mitarbeitern des Betreibers Tepco ist die Rede, sagen die einen. Von bis zu 180, sagen die anderen. Der Rest der Mannschaft ist bereits evakuiert.
Die Techniker und Ingenieure sollen retten, was in den Kraftwerksruinen noch zu retten ist. Die Öffentlichkeit kennt weder ihre Namen noch ihre Gesichter. Experten halten es für wahrscheinlich, dass es sich nicht immer um dieselben Leute handelt, sondern dass die Mannschaften ständig ausgetauscht werden. Schließlich soll die Strahlung mitunter sehr hoch sein.
Auch weitere Hilfe aus den USA ist angefordert. Bereits beim Löschen des Brandes am Reaktor 4 tags zuvor waren Männer einer US-Spezialfeuerwehr im Einsatz. Südkorea hat zudem mit der Verschiffung von Tonnen der Chemikalie Bor begonnen, einem Halbmetall, das die überhitzten Meiler kühlen soll. Doch den Rettern läuft die Zeit davon. Jede Minute zählt.
Die Situation ist dramatisch. In ihren weißen Strahlenanzügen huschen die Männer über das Gelände. Sie tragen Sauerstoffmasken. Der Spiegel meldet, sie müssten sich aufgrund des Stromausfalls teilweise in völliger Dunkelheit bewegen. Sie sollen den Wasserstoffkreislauf in den Reaktorblöcken so gut es geht aufrechterhalten.
Es muss die Hölle sein. Denn keiner von ihnen weiß genau, wie es in den Meilern aussieht. Keiner kann präzise sagen, ob und – wenn ja – wann die Kernschmelze eintritt, die zu einem Super-GAU führen würde. Das wäre der Fall, wenn der Sicherheitsbehälter eines der betroffenen Meiler explodieren oder schmelzen würde. Ein Horrorszenario, das viele Experten nicht ausschließen.
Die Helden von Fukushima sind arme Schweine
Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über die Helden von Fukushima spricht. „Das sind arme Schweine“, sagt er. Denn: „Schutzanzüge helfen nicht gegen radioaktive Strahlung.“ Er vermutet, dass die Arbeiter bereits jetzt erhebliche gesundheitliche Schäden erlitten haben. „Die Anlage ist Schrott, ob die da noch Leute verheizen oder nicht.“ Er fordert den sofortigen Abzug der Techniker.
In der Tat ist die Aufgabe so risikoreich, dass die Gesundheit der Retter offensichtlich hinten ansteht. Die Tageszeitung Asahi berichtet, die Regierung habe die Grenzwerte für zulässige Strahlenwerte bei den Technikern von 100 auf insgesamt 250 Millisievert angehoben, damit sie weiterarbeiten können. Eine Einzeldosis in dieser Höhe gilt als die Grenze, ab der mit akuten Strahlenschäden zu rechnen ist. Die japanische Gesundheitsministerin Yoko Komiyama sagt laut New York Times, mehr Strahlung sei den Betroffenen nicht zuzumuten. Doch schon jetzt riskieren die Männer ihr Leben, um Japan und die Welt vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Die Lage ist außer Kontrolle geraten. Die Meldungen über Störfälle überschlagen sich am Mittwoch. Feuer im Reaktor 4, meldet der japanische Fernsehsender NHK. Der Reaktor 1 sei zu 70 Prozent nicht mehr intakt, meldet die Nachrichtenagentur Kyodo. Zwischenzeitlich müssen die Techniker die Anlage verlassen, weil die hohe Radioaktivität ihren Einsatz nicht mehr erlaubt. Der Löscheinsatz mit Hubschraubern über dem Reaktor 3 wird abgebrochen. Das berichtet der Fernsehsender NHK. Einen Grund nennt die Sprecherin nicht. Laut der Nachrichtenagentur Kyodo ist es den Sicherheitsgruppen wegen der hohen Radioaktivität nicht möglich, Wasser von der Luft aus auf das Gebäude zu sprühen. Die Rettungsbemühungen gehen bis in die Nacht weiter. Es bleibt die Hoffnung, dass es doch noch gelingt, die Hitze und den Druck in den Reaktoren abzubauen.
Doch was passiert, wenn der schlimmste Fall eintritt? In der heutigen Ukraine ist das der Fall, als vor ziemlich genau 25 Jahren ein Reaktorblock im Atomkraftwerk Tschernobyl explodiert. Damals schickt die Regierung Tausende von Männern als Helfer in die verstrahlte Umgebung. Einer von ihnen ist Alexander Woroschilow. Er hat überlebt.
Die Hölle sieht harmlos aus. Wie ein sonniger Sommertag auf dem Lande. Er sieht diese Bilder oft in seinen Träumen: blauer Fluss, Birken am Straßenrand, Staubwolken unter den Rädern der Lastautos, in denen Männer in Militäruniform fahren. Hitze. Weißer Rauch über dem zerstörten Atomreaktor. Die Hölle von Tschernobyl, sie zeigt später ihr wahres Gesicht: das verbrannte Gesicht des zitternden Feuerwehrmannes, der sich übergibt. Das blasse Gesicht des jungen Soldaten, der nur noch krächzen kann.
Fukushima erinnert an Tschernobyl
Alexander Woroschilow spürt noch immer die Kopfschmerzen des Tschernobyl-Sommers, er fühlt die Stiche in seinem Herzen. Bevor der Mittfünfziger seine Wohnung verlässt, streift er sich ein schwarzes Toupet über die kahle Kopfhaut. Er ist froh, dass er lebt. Wie lange noch, daran denkt er lieber nicht. Andere hatten weniger Glück.
Die Sowjetunion hatte in Tschernobyl etwa 800 000 Helfer mobilisiert, um die Folgen des GAUs zu beseitigen. Offiziell starben 50 von ihnen an den Folgen des Einsatzes in der Atomruine. Inoffizielle Schätzungen gehen von 60 000 bis 100 000 toten „Liquidatoren“ aus. So nennt man die Leute, die mit den Aufräumarbeiten betraut wurden. Die Überlebenden leiden an Krebs und anderen Krankheiten. Die Helden von Tschernobyl, die ihre Gesundheit geopfert haben, um den strahlenden Reaktor in einem Betonsarkophag zu verschließen, wurden vom Staat belogen und betrogen. Um die ihnen zustehenden Invalidenrenten zu bekommen, haben sie gehungert und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geklagt.
Alexander Woroschilow unterrichtet Deutsch in einer Schule, als der Einsatzbefehl nach Tschernobyl kommt. Der 31-jährige Lehrer weiß nicht, was ihn erwartet. „Niemand sagte, wohin es geht“, erinnert er sich. In einer Militärkaserne in Rostow-am-Don hören die Männer erstmals von der Katastrophe. Manche wollen sofort hin – aus Patriotismus oder in Erwartung der versprochenen fünffachen Löhne. Andere sind entsetzt. Ein Mann versucht, die anderen von der Gefährlichkeit der Mission zu überzeugen. Er spricht vom sicheren Tod. „Die Unzufriedenen wurden vor ein Militärgericht gestellt, das sie zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt hat“, erzählt Woroschilow. „Da sagten wir uns: Bevor wir im Knast landen, fahren wir lieber für ein paar Wochen hin.“
Es werden sieben Monate. Am Reaktor sieht der unfreiwillige Retter, wie Wehrpflichtige in Gasmasken radioaktives Grafit vom Reaktordach in den glühenden Schlund hinabwerfen. Die jungen Männer ersetzen Maschinen, die ausgefallen sind. Keiner der „Bioroboter“ ist gegen die Strahlung ausreichend geschützt. Nur wenige Minuten dürfen sie sich auf dem Dach aufhalten, für die meisten reicht das, um schwere Schäden davonzutragen. Die Katastrophenhelfer geben alles. Viele arbeiten 18 oder gar 24 Stunden am Stück am Reaktor. Auf dem Papier dauern die längsten Arbeitseinsätze jedoch immer nur acht Stunden. Zu hohe Strahlungsdosen werden in den Dokumenten nach unten korrigiert.
Auch Woroschilow wird für Aufräumarbeiten auf dem Dach eingeteilt. Im November ist der Sarkophag fertig, wenig später darf der Lehrer endlich heim. „Vor der Rückkehr lebten wir noch einige Zeit in Kasernen. Niemand gab uns saubere Uniform, also mussten wir unsere verschmutzten Klamotten tragen“, erinnert er sich. Zu Hause sind seine Blutwerte so schlecht, dass er mit dem baldigen Tod rechnet. „Ich habe nur deswegen überlebt, weil unter meinen früheren Schülern tolle Ärzte waren, die mir helfen konnten“, sagt er heute.
Nach der vorzeitigen Pensionierung bemüht sich der frühere Lehrer um Anerkennung seiner strahlungsbedingten Berufsunfähigkeit. Vergebens: Für den Sowjetstaat existieren die Liquidatoren nicht. „Mehr als einmal habe ich damals an Selbstmord gedacht“, gesteht er. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekommt er eine kleine Rente. Sie reicht kaum zum Leben.
Wie es den japanischen Helfern einmal ergehen wird, darüber lässt sich heute noch nicht einmal spekulieren. Doch dort ist die Situation schon jetzt anders. Die Männer in Fukushima werden im Internet als Helden gefeiert. „Die tapferen 50“, nennt man sie in vielen Beiträgen im Internetdienst Twitter. Im Minutentakt werden neue Grußbotschaften veröffentlicht. „Wir denken an die 50 Arbeiter, die im AKW Fukushima ihr Leben riskieren, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. VIELEN DANK“, schreibt einer. Ein anderer bringt es auf den Punkt, was viele denken: „Sie sind wahre Helden.“ (mit dpa und afp)
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