Polnisches Gericht vertagt Entscheidung über Vorrang für EU-Recht erneut
Bereits jetzt hält die EU-Kommission Geld für Polen zurück, weil es Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit gibt. Ein Urteil könnte den Konflikt weiter anheizen.
Das Drama um Polen geht weiter. Nachdem das polnische Verfassungstribunal seit April bereits sieben Mal eine Entscheidung vertagt hatte und die Spannung in Brüssel gestern dementsprechend hoch waren – manche würden auch von blank liegenden Nerven sprechen –, verschoben die Richter in Warschau das Urteil erneut. Es geht um die brisante Frage: Steht europäisches Recht in Zweifelsfällen über dem polnischen Verfassungsrecht? Die Antwort könnte den seit Jahren schwelenden Streit zwischen der EU und der nationalkonservativen Führung Polens zum Eskalieren bringen. Am 30. September soll die Sitzung fortgeführt werden, hieß es gestern.
Immerhin, hier handelt es sich keineswegs um ein verfassungsrechtliches Detail. Es soll vielmehr geklärt werden, ob Bestimmungen aus den europäischen Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht beim Thema Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Es war Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der die höchste Instanz des Landes um eine Überprüfung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gebeten hat. Vergangenen März hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass europäisches Recht Mitgliedstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt.
Die Regierungspartei PiS politisierte die Justiz
Im Fokus stand die umstrittene Justizreform der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die zum Leidwesen der EU seit 2015 das System radikal umkrempelt und die Justiz politisiert, so der Vorwurf. Demnach zweifelt die EU-Kommission unter anderem die Unabhängigkeit der polnischen Justiz und damit auch des Verfassungsgerichts an, also just jenes Gremiums, das nun ein Urteil zu fällen hat ein Urteil zu fällen hat.
Den Vorsitz hat mit Julia Przylebska ausgerechnet eine enge Vertraute von Jaroslaw Kaczynski. Dieser ist zwar nur der stellvertretende PiS-Vorsitzende, gilt aber als der eigentliche Strippenzieher beim Umbau der Justiz.
Sind die höchsten Richter also nichts anderes als politische Marionetten? Genau das ist die Befürchtung der Brüsseler Behörde, die aufgrund der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung unter Morawiecki eröffnet, zudem Klagen beim EuGH eingereicht hat. Die polnischen Nationalkonservativen begründen ihre Schritte dagegen mit dem Argument, man wolle das System von kommunistischen Seilschaften befreien.
Auch aufgrund von Bedenken, ob das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingehalten wird, hält die EU derzeit milliardenschwere Corona-Hilfspakete für Polen zurück. Die Liste der Konflikte zwischen Brüssel und Warschau endet derweil nicht bei der Justizreform. Zu den weiteren Streitpunkten gehören unter anderem das polnische Mediengesetz, die Regelungen gegen die LGBTQ-Community in dem osteuropäischen Land oder auch dessen Abschottungspolitik gegen Migranten.
Ein weiterer Konflikt ist der Braunkohleabbau Turow
Aktuell kommt noch ein weiterer Konflikt hinzu: Im Streit um den Braunkohle-Abbau Turow an der Grenze zu Sachsen hat der EuGH Polen zu einer Geldstrafe verdonnert. Trotz einstweiliger EuGH-Anordnung vom Mai habe Warschau den Braunkohle-Abbau nicht gestoppt, heißt es in einer Anordnung von EuGH-Vizepräsidentin Rosario Silva de Lapuerta vom Montag. Deshalb müsse Polen ab sofort für jeden Tag, an dem es der Anordnung nicht nachkomme, 500000 Euro Strafe in den EU-Haushalt zahlen.
Die Entscheidung geht auf einen Antrag des Nachbarlandes Tschechien zurück, das zuvor schon beim EuGH gegen Polen geklagt hatte. Das Land bemängelt, dass die Lizenz für den Tagebau ohne Umweltverträglichkeitsprüfungen verlängert worden sei. Die Regierung in Prag befürchtet außerdem, dass der Grundwasserspiegel sinkt. Auch beklagten sich Bewohner der angrenzenden tschechischen Grenzregion über Belästigungen durch Lärm und Staub. Die einstweilige Anordnung des EuGH im Mai folgte diesen Argumenten.
All dies spricht für eine drohende Eskalation. So warnt die polnische Opposition seit Wochen, ein Grundsatzurteil für einen Vorrang polnischen Rechts würde den Anfang vom Ende der EU-Mitgliedschaft Polens bedeutet.Das Gespenst vom „Polexit“ macht die Runde. Doch dafür müsste das Land Artikel 50 des EU-Vertrags auslösen, also selbst den Abschied einleiten. Dass ein Austritt im Interesse Warschaus liegt, darf bezweifelt werden. Vertreter der Regierung versuchen zu beschwichtigen, auch wenn PiS-Politiker offen mit der Idee flirten. Der auch deshalb unter Druck stehende Regierungschef Morawiecki dürfte gestern dementsprechend erleichtert über die achte Vertagung des Urteils gewesen sein. (mit dpa)
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