Leerer Forggensee: Touristen haben Sehnsucht nach dem Wasser
Der Forggensee ist leer, weil der Staudamm saniert wird. Über Touristen auf dem Trockenen, ratlose Campingplatz-Betreiber und die Sehnsucht nach dem Wasser.
Es lässt sich gut aushalten auf der Terrasse des Wellnesshotels Sommer, am Rand von Füssen. Die Sonne kämpft sich wacker durch die Quellwolken. Im Hintergrund schmiegt sich das prächtige Schloss Neuschwanstein an den Fuß des Tegelbergs. Ein älteres Ehepaar hat noch nicht einmal seinen Wanderrucksack abgelegt, da bringt der Kellner bereits zwei randvolle Weißbiergläser. Auf einer dottergelben Serviette steht: „Die beste Zeit ist jetzt.“ Fünf Wörter, die unpassender nicht sein könnten. Denn es gab schon deutlich bessere Zeiten, um ins Hotel Sommer zu kommen.
Der Forggensee hat sich in eine Wüste verwandelt
Direkt hinter dem Hotel, am Ufer des Forggensees, befindet sich die Anlegestelle der städtischen Schifffahrt. Baden ist hier verboten, doch würde es ohnehin nicht für mehr als Trockenübungen reichen. Die MS Füssen döst verlassen vor sich hin, ihr Rumpf hat sich einige Zentimeter in den Boden gebohrt. Kinder heizen auf ihren BMX-Rädern durch erdige Brache, dort, wo sonst das dreistöckige Ausflugsboot seine Kreise durch das Wasser ziehen würde. In einem normalen Sommer. Doch was ist schon normal an diesem Sommer am Forggensee?
1954 wurde hier im Ostallgäu der Lech gezähmt und künstlich aufgestaut, um Strom zu erzeugen. Seitdem liegt die Ebene jeden Winter weitestgehend trocken, um im Frühsommer die Schneeschmelze aus den Hochlagen Österreichs aufnehmen zu können. Den lechabwärts gelegenen Gemeinden dient der Forggensee dann als Hochwasserschutz, Gästen aus aller Welt als Badesee. Wenn die Temperaturen wie jetzt in die Höhe schießen, kommen die Urlauber in Scharen, um Abkühlung zu finden. Erst recht in den Ferien. Bis 1. Juni muss das Gewässer vollgestaut sein, so ist es zwischen den Anrainern und Uniper, dem Betreiber des Stauwerks bei Roßhaupten, geregelt. Nur ist in diesem Jahr nichts daraus geworden.
Im Januar stellte Uniper fest, dass eine Vollstauung wegen Rissen im Damm zu riskant wäre. Die Anlage muss saniert werden – und das dauert. Kalkulierte Baukosten: 20 Millionen Euro. Der Schaden für den Tourismus: noch nicht abzuschätzen.
Normalerweise würden die Urlauber jetzt den Badestrand bevölkern
Der Schwangauer Ortsteil Brunnen ist eine kleine Ansammlung von Bauernhäusern am Ostufer des Forggensees. Ein paar Kühe grasen stoisch in der Mittagshitze. Doch von der Landwirtschaft lebt hier fast niemand mehr. Erst recht nicht der Campingplatz Brunnen – fünf Sterne, 300 Stellplätze, ein Wohnwagen-Eldorado.
Besitzer Hannes Schweiger, 56, kommt sofort zur Sache. „Schauen Sie sich das mal an“, murmelt er zur Begrüßung und zeigt auf das braune Elend, das sich in etwa so ungebeten vor ihm ausbreitet wie Kaffee auf einem weißen Teppich. Schweiger hat den Campingplatz vor 30 Jahren von seinem Vater übernommen. Die Brunner Bucht sei immer pünktlich voll gewesen, meist sogar schon ein bis zwei Wochen vor dem Stichtag.
Wäre alles nach Plan gelaufen, dann würden die Urlauber jetzt den Badestrand bevölkern, vielleicht durchs Wasser laufen zur nahegelegenen Insel, im Campingstuhl fläzen, ein Bier aufmachen. Das Allgäuer Alpenpanorama würde sich im See spiegeln.
Stattdessen aber sitzt Schweiger, ein kräftiger Mann mit Bart, Goldkettchen und Cargo-Hose, auf einer Holzbank und starrt auf eine Mondlandschaft. Eine knöcheltiefe, gartengroße Pfütze und ein mickriges Rinnsal, die Brunner Ache, die normalerweise unterirdisch fließt, sind geblieben. Ein paar Kleinkinder und Hunde planschen in den Überresten des Forggensees. „Du bist machtlos. Und die Leute sind so sauer“, klagt Schweiger. „Die sagen: Wir haben zwei Enkel, das sind Wasserratten, dann stornieren wir lieber.“
140 Camping-Gäste haben schon storniert
Als Uniper Mitte März wegen der Sanierungsarbeiten zu zwei Informationsabenden lud, blieb Schweiger zu Hause. „War vielleicht ein Fehler“, sagt er. Er schrieb seine Gäste an, erläuterte die Lage, warb für den Resttümpel. „Wir wollten nicht, dass die Leute unzufrieden bei uns sind.“ Ein paar hundert E-Mails gingen raus. Der erschütternde Rücklauf: etwa 140 Stornierungen. Den Schaden schätzt Schweiger auf ein paar tausend Euro.
Im Schwangauer Rathaus ist man sich der ernsten Lage durchaus bewusst. „Die ganze Ortschaft Brunnen ist stark abhängig vom Forggensee-Sommergeschäft“, sagt Bürgermeister Stefan Rinke. „Der Urlauberrückgang wird auf jeden Fall spürbar sein.“
Im Hotel Sommer in Füssen erzählt die Rezeptionistin, dass es ja nicht so sei, dass die Gäste ausbleiben. Aber ja, es habe „einige Stornierungen“ wegen des leeren Sees gegeben. „Für eine große Anzahl an beteiligten Anrainern ist das wirklich ein Problem“, sagt Anke Hiltensperger von der Füssener Tourismuszentrale. Gäste rufen bei ihr an, fragen auf Facebook: Können wir Schiff fahren? Können wir baden? „Für die Touristen ist das natürlich eine Einschränkung“, sagt sie.
Zurück am Campingplatz Brunnen, Stellplatz 87, die erste Reihe am Seeufer. Bernd und Melanie Schneider haben die Markise ihres weißen Wohnwagens ausgefahren. Gasgrill, Gauloises, ganz viel Gelassenheit. Auf einem kleinen Abstelltisch brodelt die Kaffeemaschine. Das Ehepaar aus Böblingen nimmt die Dinge so, wie sie kommen. „Es ist schade“, sagt Bernd Schneider. „Wir sind seit Jahren leidenschaftliche Stand-up-Paddler. Der Platz wäre optimal, um direkt ins Wasser zu gehen.“ Zum See sind es maximal 20 Schritte. Doch die Boards bleiben im Camper.
Die Schneiders zieht es schon lange ins Allgäu. Guter Käse, gutes Fleisch, viel Lebensqualität, sagen sie. Eine Stornierung kam für sie nicht infrage, die Freunde aus Würzburg, vom Wohnmobil nebenan, heiraten auf dem Tegelberg. Sie bleiben ja ohnehin nur eine Woche. „Wäre das aber unser Jahresurlaub gewesen, hätten wir umgebucht“, sagt Melanie Schneider, 46. Auch ihr Mann gibt offen zu: „Da hätt’ ich wirklich keinen Bock drauf gehabt.“
Risse ziehen sich über den Grund des Forggensees
Dabei hat so ein trockener See auch seinen Reiz. Bernd Schneider kramt eine Plastiktüte aus seinem Wohnwagen: Treibholz, das der 50-Jährige vom Grund des Forggensees gesammelt hat. Wer eine Zeit lang watet, findet so manches Kuriosum: eine leere Schrothülse, ein Heftpflaster, etwas, das nach einem uralten, verrosteten Teil einer Angel aussieht, viele Glasscherben. Der lehmige Boden gibt bei jedem Schritt leicht nach. Überall ziehen sich Risse durch den Untergrund, als hätte jemand die Erde mit einem gigantischen Hammer bearbeitet.
„Wir empfehlen den Leuten: ,Schaut doch wenigstens den trockenen Forggensee an’“, sagt Campingplatz-Besitzer Schweiger. Im Westen des Sees liegt die alte Römerstraße Via Claudia Augusta, im Zentrum die Überbleibsel von Forggen, einem alten Weiler, der bei der Aufstauung in den 1950ern geflutet worden war. „Aber mein Gott, das ist ein Tagesausflug. Wenn du zwei Wochen gebucht hast, dann...“, Schweiger spricht nicht weiter. Der Rest erklärt sich von allein.
Nachfrage bei Uniper: Hätte man mit der Sanierung nicht nach der Sommersaison beginnen können? „Wir können den Unmut der Tourismusbranche absolut nachvollziehen“, lässt ein Sprecher wissen. Aber Sicherheit gehe immer vor. Unter den gegebenen Umständen habe man mit den Baumaßnahmen nicht länger können.
Auf der Westseite des Sees, unterhalb der Ortschaft Dietringen, sitzt Georg Guggemos auf der Bank vor seiner Hütte. Seit 1977 stellt sich der Pensionär jeden Sommer an einen langen Steg, wartet auf Urlauber und verleiht von Kajütbooten bis hin zu Katamaranen alles, was das Herz von Hobbyseemännern höherschlagen lässt. „Das hat alles klein angefangen“, erzählt der Mann mit der sonnengegerbten Haut. Die Boote liegen jetzt im Gras, der Steg führt ins Nichts, fünf Meter unter ihm ein trostloses Kiesbett, in dem orangefarbene Bojen liegen.
Und wenn in diesem Sommer gar nicht mehr aufgestaut wird?
Guggemos ist ein Forggensee-Lexikon in Birkenstock-Sandalen: Er kann in Kubikmeter-pro-Sekunde-Werten und breitem Allgäuerisch über die Funktionsweise des Sees referieren, über die Schwangauer, die ja „sowieso ein eigenes Volk“ seien und über seinen Goldfund am Ufer vor einigen Jahren. Geht es aber um den leeren See, wird der 71-Jährige schmallippig. „Wenn des so sein muss, muss es halt so sein.“ Und: „Was bleibt mir denn übrig?“ 40 Prozent vom Saisonumsatz werden wohl flöten gehen, schätzt er. Zum Abschied dann wieder diese eigene Prise aus Gleichmut und Abgeklärtheit: „Werd scho.“
Wird es wirklich wieder in diesem Sommer, der kein bisschen normal ist? Werden die Urlauber noch baden, Schiff fahren und Stand-up paddeln können? Gerüchte über die Ödnis des Forggensees gibt es viele. Das Schlimmste: In diesem Jahr soll gar nicht mehr aufgestaut werden.
Uniper geht derzeit noch von einer Verzögerung von vier bis sechs Wochen aus, ein Expertengremium soll schon morgen eine Entscheidung fällen. Dass der See den ganzen Sommer über trocken bleibt, „kann theoretisch sein“, sagt ein Unternehmenssprecher. In der Tourismuszentrale Füssen sagt Anke Hiltensperger: „Das würde uns schon wirklich treffen.“ Schwangaus Bürgermeister Rinke nennt ein solches Szenario „katastrophal“. Fiele die komplette Saison aus, würden allein der Forggensee-Schifffahrt rund eine Million Euro fehlen. Im Juni wurden 270 Rundfahrten gestrichen.
Und dann ist da noch ein Problem: Falls tatsächlich aufgestaut wird, muss es erst einmal ein paar Tage kräftig regnen, damit sich der See wieder füllt. Das dürfte Urlaubern ebenso missfallen wie die aktuelle Sandwüste. Der Sommer, er ist hier wohl kaum mehr zu retten.
Georg Guggemos sieht es gelassen. Er hat seinen Bootsverleih zuletzt ohnehin nur noch als Hobby betrieben, in diesem Herbst will er aufhören. Die Schneiders, die in Brunnen campen, wollen gleich nach ihrer Abreise den nächsten Forggensee-Urlaub buchen, wieder Stellplatz 87, wieder am Ufer. Aber nur, wenn auch Wasser da ist. Hannes Schweiger wirbt derweil weiter für seinen Campingplatz. Es lässt sich hier toll wandern und radeln, sagt er. Und überhaupt, die wunderschönen Hütten. Alternativen gebe es viele. In seiner kleinen Rezeption liegt eine Liste aus: Yoga-Kurs, übermorgen. Eingetragen hat sich noch niemand.
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