Schwaben ist Vorbild-Versorger für psychisch Kranke
Psychisch kranke Menschen begeben sich häufiger in Behandlung und sind offen für medikamentöse Therapien. Warum vor allem junge Leute unter schweren Psychosen leiden.
Die beiden Entwicklungen scheinen sich zunächst zu widersprechen: Seit 1996 ist die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen um rund 80 Prozent gestiegen, und mittlerweile sind die meisten Frühverrentungen auf die gleiche Ursache zurückzuführen. Gleichzeitig sagt die Fachwelt aber, dass die psychischen Erkrankungen weder insgesamt praktisch zugenommen haben noch deren Zahl gar explodiert ist. Was ist da passiert?
Der Umgang mit der Krankheit hat sich verändert, sagen übereinstimmend die beiden Wissenschaftler Professor Dr. Thomas Becker und die Professorin Manuela Dudeck. Er ist leitender ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Günzburg, das heuer 100 Jahre alt wird; sie ist dort ärztliche Direktorin der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie.
„Wir erleben eine Zunahme der Inanspruchnahme der Hilfeleistungen“, sagt Becker im Gespräch mit unserer Redaktion. Das Verhalten der Menschen habe sich erheblich verändert, das Wissen um psychische Erkrankungen habe sich erheblich verbessert. Neue Untersuchungen zeigten auch, dass die Menschen wieder offener gegenüber medikamentösen Therapien geworden sind, die Akzeptanz anderer Therapien hatte sich schon vorher verbessert. Die Schwelle, sich in Behandlung zu begeben, sei niedriger geworden, sagt Becker. „Die Angebote haben sich den Bedürfnissen angepasst“, ergänzt seine Kollegin Dudeck. „Wir gehen dorthin, wo es passiert.“ So kommt es, dass doppelt so viele Patienten ambulant behandelt werden wie stationär.
Es gibt akut aber auch besondere Problemfälle. So nimmt die Zahl junger Leute im Alter zwischen 18 und 25 Jahren mit schweren Psychosen zu. Ihnen ist gemeinsam, so die Psychiaterin und Neurologin Dudeck, dass sie neue Drogen konsumiert haben, wie japanische Kräutermischungen, Crystal oder künstlich hergestelltes Cannabis. Hier gebe es teilweise dramatische Krankheitsentwicklungen bis hin zu Atemnot und Herzstillstand. Die Drogen dienten häufig jungen Menschen mit einem ADHS-Syndrom (Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung) zur Selbstmedikation, allerdings ohne ausreichendes Wissen über die gefährliche Wirkung der Inhaltsstoffe. Nach neueren Untersuchungen hat ein Großteil von ihnen früher das umstrittene Ritalin konsumiert.
Neue Versorgung für psychisch Kranke in Schwaben
In Schwaben hat sich die Versorgung psychisch Kranker in den vergangenen beiden Jahrzehnten erheblich gewandelt. Die dafür zuständigen Bezirkskliniken wurden dezentralisiert. Mittlerweile gibt es sieben (ab 2016 mit Obergünzburg im Ostallgäu acht) Standorte – jeweils in direkter Nachbarschaft zu den örtlichen Krankenhäusern oder dort sogar integriert. Das trug nach Expertenansicht auch dazu bei, die Hemmschwelle vor der Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung zu überwinden.
Doch ging das nicht einher mit einer Explosion der Bettenzahl: Vielmehr hat Schwaben, dem in der psychiatrischen Versorgung Vorbildcharakter attestiert wird, im Vergleich zur Bevölkerungszahl die wenigsten stationären Plätze, sagt Thomas Düll. Er ist Vorstandsvorsitzender des eigens für die psychiatrische Versorgung in der Region gegründeten Kommunalunternehmens „Bezirkskliniken Schwaben“.
Früher lag die Verwaltung in der schwerfälligeren Verantwortung des Bezirks Schwaben mit seinen Gremien. Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert (CSU) ist seitdem nur noch Chefkontrolleur, aber mit dem „gut funktionierenden Unternehmen“ sehr zufrieden. Wobei er mehrfach betont, wie eng dennoch die Verflechtungen zwischen dem für Sozialhilfe und Behinderte verantwortlichen Bezirk und den Kliniken ist, deren Patienten häufig auf dessen soziale Betreuung angewiesen sind.
Die Bezirkskliniken schreiben schwarze Zahlen
Anders als andere Krankenhäuser schreiben die Bezirkskliniken schwarze Zahlen. Das sei auch gut so, sagt Reichert. Schließlich müssten damit auch die Investitionen finanziert werden. Erst im Februar wurde ein 34-Millionen-Projekt in Kempten abgeschlossen. In Kürze werden die Ergebnisse eines Architektenwettbewerbs für den Neubau des Günzburger Bezirkskrankenhauses vorgelegt werden. Dort nimmt man Abschied von den nicht mehr zeitgemäßen Pavillons, die teilweise noch aus der Anfangszeit vor 100 Jahren stammen. Baubeginn soll 2017 sein.
Die Zeit drängt. Nicht nur, weil die Wege weit sind, geeignete Räume für die Therapie fehlen und die Unterbringung in Mehrbettzimmern ohne eigene Sanitärräume nicht mehr den Standards entspricht. Das BKH Günzburg ist ja auch akademisches Krankenhaus der Uni Ulm, also Universitätsklinik mit gehobenen Ansprüchen.
Die forensische Klinik für den Maßregelvollzug und die Behandlung psychisch kranker Straftäter verfügt bereits über einen Neubau. Hier kann Professorin Dudeck, wie sie sagt, dank ausreichend zur Verfügung stehenden Mitteln und der hohen Professionalität der Mitarbeiter modernste Techniken, Medikamente und Therapieverfahren einsetzen. Was das Besondere ist: die 46-jährige Mecklenburgerin, die 2013 nach Schwaben kam, ist als Lehrstuhlinhaberin der Universität Ulm zugleich Beamtin des Landes Baden-Württemberg – ein Modell, das seit mittlerweile fast vier Jahrzehnten am Bezirkskrankenhaus Günzburg auf unterschiedlicher Ebene erfolgreich praktiziert wird.
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