Eine Baracke war die Pforte in ein neues Leben
Friedberg Noch heute ist Karin Böhme gerührt, wenn sie sich an die erste Zeit in Friedberg vor 20 Jahren erinnert. Mit viel Nervenkitzel war es ihrer Familie am 11. September 1989 gelungen, die DDR zu verlassen (wir berichteten). Karin (Jahrgang 1957) und Uwe Böhme (Jahrgang 1956) und ihr damals sechsjähriger Sohn Peter waren viel problemloser über die Grenzen gekommen, als sie erwartet hatten.
Doch wohin sollte es nach der Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland weiter gehen? Bayern war die neue Wunschheimat, München war den Böhmes zu groß. So landeten sie vorübergehend im Ausländerwohnheim in Augsburg. Es war ein Zufall, dass die Familie auf einer Landkarte Friedberg entdeckte. Schon der Stadtname gefiel ihnen. "Beim Anblick des in der Sonne glitzernden Rathauses verliebten wir uns sofort in diese Stadt", erinnert sich Karin Böhme. In Friedberg wollte die Familie aus der DDR künftig wohnen.
Eine erste Anfrage bei der Stadt Friedberg nach einer alten Bude zum Selberausbau war erfolglos. Mit dem dafür in der DDR üblichen Begriff "Ausbauwohnung" konnte eine städtische Mitarbeiterin nichts anfangen. Ihre Antwort lautete: Die Stadt vermiete entweder richtige Wohnungen oder gar keine. Am Anfang war es mit am Wichtigsten für Karin und Uwe Böhme, den Teufelskreis "Keine Arbeit ohne Wohnung und umgekehrt" zu durchbrechen. Dass dies gelang, führt die Familie auf viel Eigeninitiative und eine filmreife Verkettung von positiven Umständen zurück.
Die Zeit drängte, denn die Aufenthaltsdauer in dem Ausländerwohnheim war begrenzt. Die Böhmes baten unter dem Vorwand, schon eine Wohnung in Aussicht zu haben, um Aufschub und fragten in Friedberg herum. Weil Wohnraum knapp war, versuchten unter anderem auch der damalige Bürgermeister Albert Kling und Stadtrat Albert Sedlmeyr - zunächst vergeblich -, zu helfen. Wichtig waren aber auch kleine Gesten. So schenkte die Familie Sedlmeyr dem sechsjährigen Peter ein Plüschtier. Der Familie vermittelte dies das Gefühl, willkommen zu sein. Der Stoffaffe wird als wichtiges Erinnerungsstück immer noch in Ehren gehalten.
Als Retter in der Not mit einer ersten Unterkunft erwies sich der Friedberger Norbert Knirsch auf Vermittlung von Erich Sedlmeyr. Wobei Knirsch zunächst große Bedenken hatte, ob er der Familie die alte Holzbaracke neben einem Tanklager in einem Gewerbegebiet in Lechhausen überhaupt anbieten sollte. Doch für Familie Böhme war diese Unterkunft Gold wert. Damit hatten sie eine Adresse (Derchinger Straße 86 b), was eine Art Eintrittskarte in das Berufsleben der Bundesrepublik bedeutete.
"Für uns war das wie eine Villa", erzählt Karin Böhme. In ein paar Wochen hatte sich die junge Familie eingerichtet mit Provisorien vom Sperrmüll und Spenden. "Für uns war es wie im Himmel", beschreibt Karin Böhme ihre Gefühle in dem neuen Zuhause. Schließlich hatte die Familie bei Null angefangen. Ganz irdisch waren hingegen kleine Mitbewohner. Bis zu 20 Mäuse gingen pro Nacht in die Falle. Ein halbes Jahr wohnte die Familie in der Baracke. Doch das Ziel blieb Friedberg.
So bemühten sich die Böhmes darum, dass Sohn Peter gleich in der Friedberger Grundschule und im Kinderhort unterkam. Dass dies glückte, führt Karin Böhme auf ein großes Entgegenkommen der damaligen Schulschwestern zurück. Wahrscheinlich hatten die Ordensfrauen Mitleid. "Wir standen da wie ein Häufchen Elend mit dem kleinen schüchternen Peter", beschreibt Karin Böhme die damalige Situation. Der Sechsjährige bekam unter anderem einen alten liegen gelassenen Schulranzen geschenkt. Nach seinem ersten Schultag in Friedberg brachte er darin einige praktische Geschenke seiner neuen Klassenkameraden mit heim: Bleistift, Hefte, Radiergummi usw. Zum Schenken hatte die Klassenleiterin, Frau Hergen, ermuntert. "Uns wurde bewusst, wir hatten nicht einmal die einfachsten Dinge", sagt Karin Böhme.
Im November 1989 fanden Karin und Uwe Böhme Arbeit als Maschinenbauingenieure in der Kissinger Firma Van der Molen. Dort fragten die beiden "Ossis" zunächst nach der Kaderabteilung und ernteten verständnislose Blicke. Dass sie mit dem Begriff das Personalbüro meinten, wurde erst klar, als die Betriebsabteilung sich auf die Suche nach den Neuankömmlingen machte.
Dass Deutsche aus Ost und West nicht immer dieselbe Sprache sprechen, musste auch Peter erleben. In seinem ersten Jahr in Friedberg sollte er in einer Bäckerei "Pfannkuchen" kaufen. "Haben wir nicht", lautete die Antwort der Verkäuferin. Peter entgegnete: "Aber hier liegen doch ganz viele." "Nein, das sind Krapfen", wurde ihm erklärt. Noch heute rutscht Karin Böhme manchmal "Pfannkuchen" statt "Krapfen" heraus. Und dass sie aus Sachsen stammt, hört man ihr und ihrem Mann nach wie vor an. Doch als Friedberger haben sie sich von Anfang an gefühlt, als sie 1990 in ein Reihenhaus nach Friedberg umzogen. Eine aufgeschlossene Nachbarschaft half den "Zugroasten" über Startschwierigkeiten hinweg.
"Nun leben wir fast 20 Jahre in dieser Stadt, fühlen uns sehr wohl und sind vielen Menschen, die wir schätzen und kennenlernen durften, sehr dankbar", da sind sich Karin und Uwe Böhme vollkommen einig.
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