Der Hilferuf von Hamid Karsai
Berlin (dpa) - Hamid Karsai, seit zwei Jahren und drei Monaten Übergangspräsident von Afghanistan, schiebt das Manuskript beiseite. Seine Beamten haben ihm 19 Seiten aufgeschrieben, säuberlich in Sektionen von A bis G und in zahlreiche Unterpunkte gegliedert. Er kommt nur bis zur zweiten Seite. Dann sucht Karsai Blickkontakt - mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zu seiner Linken, mit den Außenministern Colin Powell (USA) und Jack Straw (Großbritannien) etwas weiter entfernt am dunklen ovalen Holztisch. Und mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, so neu im Amt, dass er sich manchen Kollegen noch artig vorstellt.
"Glauben Sie nicht eine Sekunde, wir hätten etwa vergessen, dass wir ohne die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft gar nicht hier wären", sagt Karsai und hebt die Hände. "Wir haben es nicht vergessen, und wir sagen Danke." Ohne Umschweife kommt er dann auf die beiden Punkte, die die Vertreter von 56 Geberländern besonders umtreiben: Die anhaltende Unsicherheit durch Privatarmeen und die Drogenproduktion, vor allem den Anbau von Schlafmohn.
Afghanistan hat den Rest der Welt um knapp 28 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau nach Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg gebeten. Und ausführlicher als eigentlich geplant sucht Karsai zu erklären, dass es mehr Sicherheit nur gibt, wenn sich die wirtschaftliche Lage des Landes bessert. Noch versuchen vier der 29 Millionen Afghanen, mit weniger als 50 US-Cent pro Tag zu überleben, noch führt das Land viele Horrorstatistiken an, beispielsweise jene von Kindersterblichkeit und Tod im Kindbett an.
"Die privaten Milizen sind ebenso ein Grund der Instabilität wie der Drogenhandel", sagt Karsai. "Die Drogen untergraben die Existenz des Staates selbst." Aber für viele Bauern sei der Anbau des Schlafmohns, aus dem Opium, Morphium und Heroin gewonnen werden, die einzige Möglichkeit zum Überleben: "Das erklärt die Verzweiflung der Menschen." Karsai - mit seinem traditionellen, silberbestickten blau- grünen Umhang einer der wenigen Farbtupfer im großen Oval der vielen Herren in Anthrazit und Dunkelblau und einiger weniger Damen - lässt den Blick von Delegation zu Delegation schweifen: "Niemand wird gerne Drogenhändler genannt. Es ist unser eigenes Interesse als Staat und Nation, die Drogenproduktion zu bekämpfen. Aber wir brauchen dazu Ihre Hilfe."
Schon vor der Konferenz im Ballsaal des Berliner Hotels Intercontinental, das der Absperrmöglichkeiten wegen ausgesucht worden war, hatte hinter den Kulissen das Addieren der Millionen begonnen. Finanzminister Ashraf Ghani stellte den erbetenen 27,5 Milliarden Dollar jene zwölf Milliarden gegenüber, die jetzt pro Jahr für militärische Sicherheit in seinem Land ausgegeben werden: "Wenn wir um Hilfe bitten, dann helfen wir Ihnen, Geld zu sparen." Denn er weiß: "Es gibt keinen Schlafmohnanbau in Ländern, in denen die Menschen mehr als 1000 Dollar im Jahr verdienen." Auch ihm war klar, dass trotz der Bekundungen fortgesetzter Hilfsbereitschaft seitens der Geber dieser Betrag bei der Berliner Konferenz nicht vollständig aufgebracht werden würde. Ghani konnte das nicht entmutigen: "Es geht nur um die Abfolge. Wir bewegen uns schrittweise vorwärts."
An Lob für die deutschen Gastgeber mangelte es nicht - Schröder und Außenminister Joschka Fischer ließen es sich gerne gefallen. Und auch der Beifall für Karsais emotionalen Redehöhepunkt ("Vor uns liegt eine bessere Zukunft, und wir werden sie erreichen") ließ keinen Zweifel am guten Willen der Geber. Aber nur einmal gab es bei der Konferenz spontanen Applaus. Das war, als Schröder jene erwähnte, ohne die in Afghanistan kaum etwas voranginge: die zivilen Wiederaufbauhelfer.
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