Der Stadtsaal wird 1948 für Maria Schuster zum Neuanfang ihres Lebens
In einem jugoslawischen Lager war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Schwester gestorben. Nach einer Odyssee erreicht die Familie schließlich Krumbach.
Sie zieht das kleine Foto aus einem weißen Briefumschlag. Ihr Blick auf das Bild, er ist für Maria Schuster eine Reise durch Zeit und Raum zu sich selbst. Zwölf Jahre sei sie damals gewesen, sagt sie. Das Foto zeigt sie im Krumbacher Stadtsaal, aufgenommen vermutlich im Juli 1948. Im Hintergrund ist ein Koffer zu sehen. Er deutet allenfalls an, was in diesem Jahr 1948 hinter Maria Schuster und ihrer Familie liegt. Die Familie gehört in Jugoslawien zur deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe der Donauschwaben. Nach dem Ende des Krieges 1945 verlieren sie in Jugoslawien alle Rechte, sie werden mit brutaler Gewalt verfolgt, eine Schwester von Maria Schuster stirbt in einem jugoslawischen Lager. Lange ist die Familie auf der Flucht, als sie im Sommer 1948 Krumbach erreicht. Der Stadtsaal wird für sie zu einem Neuanfang ihres Lebens.
Die Herkunft des Stadtsaalfotos, der Fotograf? Sie wisse es nicht mehr, sagt sie. Doch gleichermaßen wird im Gespräch mit Maria Schuster spürbar, dass das kleine, relativ gut erhaltene Schwarz-Weiß-Foto für sie eine Art besonderer Lebensschatz ist. Auf Feldbetten hätte die Familie im Stadtsaal übernachtet. Das Essen sei "knapp, aber gut gewesen". Sie erinnert sich an die Bäckereien Kaiser und Hiller, an "ältere Damen", mit denen sie dort oft gesprochen habe. Sie hätten ihr gesagt, sie solle immer abends kommen, dann würde sie von dem etwas bekommen, was "vom Tag übrig ist".
Die Familie ist 1948 froh, überlebt zu haben
Lange ist Maria Schuster mit ihrer Familie im Stadtsaal untergebracht (auf einem Papier hat sie Juli 1948 bis September 1950 notiert), bevor die Familie in Krumbach "sesshaft" wird. Immer wieder betont sie, dass sie sich in ihrer persönlichen Schilderung ganz auf die Flucht aus Jugoslawien und die Ankunft im Stadtsaal konzentrieren möchte. Auch das deutet an, wie diese Zeit sie bis heute prägt. Ihr Leben im Stadtsaal, es bewegt sich am Rande des Existenzminimums, aus heutiger Sicht wohl kaum mehr vorstellbar. Doch die Familie ist 1948 froh, buchstäblich überlebt zu haben. Das, was Maria Schuster über ihren Weg nach Krumbach erzählt, ist eine beklemmende Dimension des menschlichen Abgrunds.
Maria Schuster wird am 27. Juni 1936 in dem Dorf Stanišić (der Ort zählt heute rund 4000 Einwohner) in der Region Batschka geboren. Der Ort gehört zu den Siedlungsgebieten der Donauschwaben, die sich hier zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert auf dem Boden der damaligen Habsburger-Monarchie ansiedeln. Die Herkunft der Siedler ist höchst unterschiedlich, viele kommen aus Lothringen, aus dem Elsass und aus der Pfalz. Nur etwa rund sechs Prozent der Siedler stammen aus Schwaben. Für ihre Fahrt auf der Donau in den Südosten Europas nutzen nicht wenige die legendären "Ulmer Schachteln".
Der Begriff Donauschwaben setzt sich erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) und der politischen Neuaufteilung des Balkans durch. In dieser Zeit beginnt sich ein landsmannschaftliches Bewusstsein der deutschsprachigen Bevölkerung zu entwickeln. Nach dem Untergang der Habsburger-Monarchie wurden die Siedlungsgebiete der Donauschwaben zwischen Ungarn, Rumänen und dem neu gegründeten Staat Jugoslawien dreigeteilt. Vor dem Zweiten Weltkrieg leben in Jugoslawien rund 500.000 Menschen deutscher Abstammung. Zu ihnen gehört auch Marias Familie Kolić. Der Familienname deutet an, dass die Verbindungen zwischen Deutschen und Serben oder Kroaten in der Region lange Zeit auch sehr eng sein konnten.
Jugoslawien wird 1941 von deutschen Truppen besetzt
Maria Schuster erzählt von ihren Eltern, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, von den insgesamt fünf Geschwistern. "Wir waren fünf Mädchen, ich war die Zweitjüngste." Jugoslawien wird im Frühjahr 1941 von deutschen Truppen erobert, die mehrjährige Naziherrschaft ist brutal. Im Zuge des Vormarsches der sowjetischen Armee dringen im Herbst 1944 jugoslawische Partisanen in das Gebiet der deutschen Bevölkerungsgruppe ein. Im neu gegründeten, kommunistisch dominierten Jugoslawien werden den Deutschen alle Rechte entzogen. "Fast 70.000 deutsche Höfe mit rund 380.000 Hektar Land wurden vom Staat enteignet", schreibt Professor Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor des Leibnitz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung an der Universität Regensburg in einem aktuellen Beitrag für die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.
In der Folgezeit werden viele Deutsche in Lagern interniert. Lager dieser Art gibt es in dieser Zeit in vielen Staaten Ost- und Südosteuropas. Doch "am schlimmsten waren die Lager in Jugoslawien", berichtet der irische Historiker Raymond M. Douglas, Professor für Geschichte an der Colgate University in Hamilton, New York, in seiner 2012 erschienenen umfassenden Darstellung "'Ordnungsgemäße Überführung'. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg". In den jugoslawischen Lagern sterben laut Historiker Brunnbauer 20.000 bis 30.000 Menschen.
Im Lager Gakovo leben Tausende unter schrecklichen Bedingungen
Im jugoslawischen Lager Gakovo unweit der Grenze mit Ungarn sind mehr als 5000 Lagerinsassen untergebracht, darunter auch die Familie Kolić. "Grausam", erinnert sich Maria Schuster. Sie spricht über das Essen, eine Suppe, in der "Würmer schwammen". Die Tagesrationen in den Lagern bestanden laut R. M. Douglas "aus wässriger Suppe und 200 Gramm Maisbrot, so steinhart, dass man es in Wasser eintauchen musste, um es essen zu können." Maria Schuster erinnert sich an dieses Maisbrot, die minimalen Tagesrationen. Viele Menschen seien gestorben, oft seien es über 100 an einem einzigen Tag gewesen. Sie denkt zurück an die Massengräber – und an den Tod ihrer älteren Schwester, mit 17 Jahren. Sie sei krank gewesen, es habe keinerlei Medizin gegeben.
Sie selbst habe all das mit gerade einmal zehn Jahren erleben müssen. Auch Maria Schusters Lebensgeschichte zeigt, wie die im Jahr 1945 zwischen den Alliierten abgeschlossenen Potsdamer Abkommen als "ordnungsgemäße Überführung" bezeichnete "Umsiedlung" der Deutschen tatsächlich ablief.
Doch irgendwie gelingt es der Familie, 1946 dieser Hölle zu entkommen. Maria Schuster berichtet von einem Kontakt zu einem Posten, dem sie viele ihrer noch verbliebenen Habseligkeiten überlassen hätten. Der Familie gelingt es, sich auf geradezu abenteuerlichen Wegen über die Grenze ins nahe Ungarn und schließlich weiter nach Österreich durchzuschlagen. "Alles zu Fuß, ich kann gar nicht mehr erklären, wie wir das geschafft haben."
In Österreich seien sie 1947 dann rund ein ganzes Jahr gewesen. Die Eltern und die größeren Schwestern hätten unweit von Wien bei einem Bauern gearbeitet und so die Lebensexistenz gesichert. Doch es blieb das Ziel, die amerikanische Besatzungszone im Süden Deutschlands zu erreichen. Dank der Hilfe von Schleusern seien sie 1948 bei Passau über die Grenze nach Deutschland gelangt.
Im Januar 1946 hatte die jugoslawische Regierung bei den Alliierten die Aufnahme der Jugoslawiendeutschen beantragt, die Westalliierten lehnten dies jedoch ab. Die jugoslawischen Behörden beginnen darauf, "Deutsche mit Zügen an die Grenze zu Österreich und Ungarn zu transportieren", schreibt Historiker Brunnbauer. Dies alles lässt ahnen, wie unberechenbar das Leben für die deutschsprachige Bevölkerung in Jugoslawien geworden war.
"Sie sehen, wie oft ich in einem Lager war", sagt Maria Schuster
Maria Schuster erreichte mit ihrer Familie im Frühsommer 1948 nach einem Bahntransport das Durchgangslager Schalding unweit von Passau. "Sie sehen, wie oft ich in einem Lager war", sagt sie dann unvermittelt. Bald geht es weiter nach Krumbach, in den Stadtsaal. Bei ihrer Ankunft waren viele Menschen im Saal gewesen, ein "ganzer Transport" sei angekommen. Sie werden im Sommer 1948 die letzten Flüchtlinge/Heimatvertriebenen sein, die in diesem Saal untergebracht werden. Es hätte im Saal "aufgeräumt" ausgesehen, erzählt sie. Und sie erinnert sich, dass es mit der D-Mark ein "neues Geld" gab. All das gibt der Familie Hoffnung auf ein Leben, das endlich menschenwürdig ist. Diese Hoffnung ist im Sommer 1948 stark mit dem Krumbacher Stadtsaal verbunden. Man spürt es beim Blick auf das kleine Schwarz-Weiß-Foto von Maria Schuster.
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