Allegra Mallel war eine junge Frau, die auf der griechischen Insel Rhodos lebte – eine von 2000 Juden, die dort unbehelligt blieben, solange die Italiener das Sagen hatten. Doch im September 1943 besetzte die deutsche Wehrmacht Rhodos, und im Juli 1944 begann die SS die Deportierung. Allegra Mallel war 30 Jahre alt. In Landsberg verrichtete sie Zwangsarbeit beim Bunkerbau. Nachdem sie am 29. April 1945 in Dachau von den Amerikanern befreit worden war, lebte sie noch dreieinhalb Monate.
Allegra Mallel, Rachel Sulam, Laura Hasson und Suzanne Gaon – vier Namenszüge, mit Bleistift an die „Wände einer Unterkunft“ geschrieben. Nichts Besonderes eigentlich, wenn es sich bei der Unterkunft nicht um einen der Tonröhrenbunker im Lager VII des ehemaligen Außenlagerkomplexes Landsberg-Kaufering handeln würde. Die Namen stehen für vier junge Frauen, alle zwischen 27 und 31 Jahre alt, Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Rhodos, die ihre Unterschriften mit Bleistift irgendwann zwischen 1944 und ihrer Befreiung im April 1945 auf eine der Tonröhren geschrieben haben, die – ineinandergesteckt – das Dachgewölbe ihrer kargen Gefangenenunterkünfte des Lagers VII an der Erpftinger Straße bildeten. Vielleicht hatten sie in ihrer Hoffnungslosigkeit das Ziel, dass später einmal irgendjemand auf diese Unterschriften aufmerksam werden würde und über ihr Schicksal Nachforschungen anstrengen würde.
Wer weiß, ob die vier jemals daran geglaubt hatten, befreit zu werden, oder Gegenstand von historischen Forschungen zu werden. Laura Hasson beschrieb nach ihrer Befreiung ihr Martyrium in der Geschichte „Die Odyssee der Frauen von Rhodos“. Wie der deutsche Generalleutnant Kleemann zusammen mit zwei SS-Männern die Deportation der Juden von Rhodos nach Auschwitz organisierte. Hasson hielt fest, wie sie mit einer Gruppe von 1800 Menschen von Rhodos aus startete, etwa 60 bereits in den ersten Reisetagen starben oder erschlagen wurden.
Erst in Auschwitz, dann in Landsberg
In Auschwitz blieben sie zweieinhalb Monate, bevor es für einige am 27. Oktober 1944 nach Landsberg ging. Hasson kam zunächst ins Lager II, wo sie sechs Wochen blieb. Dann ging es ins Lager VIII und von dort ins Lager VII an die Erpftinger Straße. Sie beschreibt die heutige Holocaust-Gedenkstätte: „Es war das beste von allen.“ Was sie damit wohl meinte: Wegen Flecktyphus stand das Lager unter Quarantäne und somit blieb den Häftlingen die Zwangsarbeit erspart. Dort müssen die Frauen aus Rhodos dann ihre Unterschriften in einer der Tonröhrenunterkünfte hinterlassen haben. Hasson und die anderen Frauen kamen anschließend ins Lager XI. Tägliches Wecken um 4 Uhr früh und dann der 18 Kilometer lange Fußmarsch nach Oberigling, wo sie auf der Bunkerbaustelle Schutt wegräumen mussten. Dann kamen am 27. April 1945 die Amerikaner.
70 Jahre sollte es dauern, bis die Namen der Frauen von Rhodos wiederentdeckt wurden. Es war der Statiker Jörg Rehm, der bei den Sicherungsarbeiten im vergangenen Sommer auf die Unterschriften stieß – und zunächst für nicht brisant hielt. Manfred Deiler, Projektleiter der Restaurierungsarbeiten im ehemaligen Lager VII erfuhr von ihm lediglich, dass er „irgendwelche Graffitis“ gesehen habe. Allerdings wisse er nicht mehr wo. Erst als das Stützgerüst herausgenommen wurde, fand er die Stelle wieder. Manfred Deiler: „Wir waren alle wie elektrisiert.“ Vier Namen waren zu erkennen, der Schriftzug von Rachel Sulam war am deutlichsten zu entziffern. Deiler wandte sich an Oberstleutnant Gerhard Roletschek, den Leiter der Militärgeschichtlichen Sammlung „Weingut II“ im nahen Bunker, bei dessen Entstehung die Frauen damals Zwangsarbeit leisten mussten. Er überließ Deiler eine Transportliste, auf der die vier Namen der Frauen sofort gefunden wurden.
Nun kam eines zum anderen. Deiler schrieb an den International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen, ein Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, Zwangsarbeit sowie den Holocaust. Von dort bekam er Häftlingskarteikarten. Und plötzlich stand eine nachvollziehbare Lebensgeschichte hinter jedem Namen. Allegra Mallel ist zum Beispiel die Tochter von Nissim Mallel und Zumul Habib. Sie wurde am 18. August 1913 auf Rhodos geboren. Sie war 170 Zentimeter groß, die Haarfarbe der 31-Jährigen grau (!), die Gestalt mager. Sie sprach Italienisch, Französisch und Spanisch.
Manfred Deiler stieß dann auf ein Kapitel im Buch von Joseph Rovan „Geschichten aus Dachau“. Dieser berichtet über die Juden von Rhodos, die in eines der „Waldlager in der Nähe von Landsberg kamen, wo sie beim Bau eines unterirdischen Flugzeugwerkes eingesetzt waren.“ Nach der Befreiung sollen sie den Wunsch geäußert haben, zu einem Onkel nach Rhodesien zu fahren. Joseph Ravan: „Ihre Tragödie las sich wie ein Wortspiel: von Rhodos nach Auschwitz und über Dachau nach Rhodesien.“
In Freiheit gestorben
Deiler schrieb E-Mails an jüdische Gemeinden in Rhodesien, dem heutigen Simbabwe: „Die Communities dort sind seither in Bewegung.“ So erfuhr er, dass Allegra Mallel ihre Befreiung nur kurze Zeit überlebt hatte. Am 11. August 1945 ist sie in einem Krankenhaus in Bologna (Italien) gestorben. Sie hatte die Nazi-Gräuel überlebt, um dann in Freiheit doch zu sterben.“