Viel Zeit bleibt Merkel nicht mehr
Der Druck auf Angela Merkel steigt. Wann korrigiert sie ihre Politik der offenen Grenzen? Oder schmeißt die Kanzlerin lieber hin? Nach den Landtagswahlen kommt Plan B.
Über viele Jahre hinweg stand die Kanzlerin im Ruf, ihre Fahne meist in den Wind zu hängen und ihre Politik auf die Stimmung von Mehrheiten auszurichten. In diesem Befund steckte viel Wahres, mochte das Bild von der ohne Kompass operierenden Machtpolitikerin auch überzeichnet sein. Und nun das. Im elften Jahr ihrer Kanzlerschaft erlebt Deutschland plötzlich eine ganz andere, eine unerschütterlich an ihrer Linie festhaltende Angela Merkel. Eine Frau, die ihr Amt aufs Spiel setzt und um ihrer Überzeugung willen keinen Zentimeter von dem einmal eingeschlagenen Weg abweicht.
Eine Regierungschefin, die wohl um die Stimmung im Volk weiß, aber dem öffentlichen Druck nicht nachgibt. Alle Welt rätselt, was hinter diesem Basta-Stil steckt. Ist es Sturheit? Ist es die Angst, bei einem Kurswechsel erst recht an Glaubwürdigkeit und Führungsautorität einzubüßen? Ist es die Machtdemonstration einer Weltpolitikerin, die ihre Bodenhaftung verloren hat? Oder folgt Merkel einfach konsequent ihrer rationalen Einsicht, wonach die Flüchtlingskrise nur europäisch zu lösen ist und nationale Maßnahmen wie Grenzschließungen keinen Ausweg bieten?
Der Druck auf Angela Merkel wird nicht geringer
Es ist, vermutlich, eine Mischung aus allem – und vor allem auch ein Indiz dafür, dass die protestantische Pastorentochter Merkel ihre Christenpflicht erfüllen und den widerstrebenden Deutschen klarmachen will, dass die moderne Völkerwanderung nicht zu stoppen, sondern allenfalls in geregelte, für das Land auch Chancen bietende Bahnen gelenkt werden kann.
Dies alles mag erklären, warum die CDU-Vorsitzende so eisern an ihrer historischen Entscheidung offener deutscher Grenzen festhält – scheinbar unbeeindruckt von dem wachsenden Widerstand in den eigenen Reihen und der Stimmung im Volk, das in seiner großen Mehrheit für eine strikte Begrenzung der Zuwanderung ist und nach den schändlichen Ereignissen von Köln mehr denn je an den Segnungen der „Willkommenskultur“ zweifelt.
Die CSU attackiert Merkels Politik immer heftiger; auch in der CDU rumort es. Die Wähler laufen der CDU in Scharen davon. Die SPD, die den Unmut ihrer Wähler ebenfalls zu spüren bekommt, setzt sich von Merkel ab. Die Koalition bietet ein diffuses Bild. Zugleich laufen Merkels Versuche, die Flüchtlingszahlen mit Hilfe energischer EU-Maßnahmen wie dem Schutz der Außengrenzen zu verringern, ins Leere.
Merkel bleibt in der Flüchtlingskrise nicht mehr viel Zeit
Mit jeder Woche, die ohne greifbare Ergebnisse verstreicht, wachsen die Zweifel an Merkels Plan. Die Kanzlerin zehrt noch von ihrem Vertrauenskredit. Niemandem, auch der CSU nicht, ist an ihrem Sturz und an Neuwahlen gelegen. Aber viel Zeit bleibt Merkel nicht mehr, um ein Signal für die begrenzte Aufnahmefähigkeit des Landes zu setzen und den Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie der Krise Herr wird und die Sicherheit des Landes gewährleisten kann.
Wenn die Kanzlerin die EU für ihren Weg nicht gewinnen kann, die CDU bei den Landtagswahlen im März einbricht und die rechte Konkurrenz AfD triumphiert, dann wird sie an den deutschen Grenzen handeln und sich mit dem Gedanken an eine Art Obergrenze anfreunden müssen. Weil dann der Druck im Kessel der Koalition noch einmal immens steigt, der Laden der Union auseinanderzubrechen droht und ihr Amt auf dem Spiel steht.
Schmeißt Merkel hin?
Wer weiß, vielleicht schmeißt Merkel lieber hin, als das aus ihrer Sicht Falsche zu tun. Wahrscheinlicher ist, dass sie zu Plan B greift und mit einer sanften, die Kritiker besänftigenden Kurskorrektur noch einmal Zeit für ihre „europäische Lösung“ gewinnt. Es wäre die Rückkehr der altbekannten, auch auf die Stimme des Volkes hörenden Realpolitikerin.
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