Brexit-Streit läuft aus dem Ruder: "Wir werden unserer Zukunft beraubt"
Die Briten stellen die Brexit-Schicksalsfrage, es gibt verrückte Szenen. Wie geschaffen, um sie mit britischem Humor zu nehmen. Aber niemand lacht mehr.
An einem dieser Abende in diesen ohnehin verrückten Zeiten, es war kurz vor Weihnachten und nach dem Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May, lud Außenminister Jeremy Hunt Diplomaten zum Empfang ins prächtige Lancaster House. Umhüllt vom vergoldeten Glanz und Geist des British Empire pries Hunt das Großbritannien der Zukunft und auch ein bisschen sich selbst. Er schielt offensichtlich auf den Posten in der Downing Street. Dieser Club der möglichen Kandidaten wird täglich größer, wenn auch nicht besser; ermutigt von der Regierungschefin selbst, die zwar offiziell an der Macht ist, aber keine mehr hat.
Hunt jedenfalls zeigte sich zuversichtlich, dass alles gut werde. Immerhin, so sagte er zuletzt im Parlament, könne man Parallelen zwischen seinem „Lieblingskinderfilm“ Lassie und dem Brexit ziehen: Der Hund habe sich „ohne jegliches Referendum“ befreit und sei nach Hause gekommen. „Das ist für uns alle eine Lektion.“ Nicht jeder konnte ihm in seiner Argumentation folgen. Auf der Liste der potenziellen Nachfolger Mays klettert er trotzdem stetig nach oben. Vielleicht liegt es daran, dass Hunt gerne seine Meinung ändert, je nachdem, wie der Wind gerade weht.
Theresa May kämpft bis zuletzt für ihr Abkommen, das sie mit Brüssel ausgehandelt hat. Doch an diesem Dienstag droht ihr die größte aller Niederlagen, wenn das Parlament über den Deal abstimmt. Es gilt als sicher, dass sie zumindest im ersten Anlauf krachend scheitern wird. Verzweifelt beschwört sie am Montag ihre Kollegen. Nicht nur, dass mit einer Ablehnung ein Austritt ohne Vertrag ein Risiko bleibe. Noch wahrscheinlicher sei es, dass es zu „einer Lähmung des Parlaments“ komme – mit der Gefahr, ohne Brexit dazustehen, sagt sie.
An jenem Abend im Dezember, als Hunt im Lancaster House empfing, trafen sich nicht weit entfernt im Obergeschoss eines Pubs in Westminster einige konservative Rebellen, die aus ihrem Groll gegen ihre Chefin mittlerweile fast so etwas wie eine Marke kreiert haben. Die europaskeptischen Hardliner waren damals zwar mit dem Versuch gescheitert, die Premierministerin zu stürzen, doch es ist ihnen zuzuschreiben, dass die öffentliche Debatte im Königreich zunehmend ins Extreme gerückt ist.
Die Brexit-Hardliner soffen und zelebrierten ihren Widerstand
Die Stimmung an diesem Abend, heißt es, sei ausgezeichnet gewesen. Da aßen die – vornehmlich – Herren also Häppchen, soffen, wie das nur Briten können, und zelebrierten im traditionellen Dreireiher ihren Widerstand. In vorderster Linie EU-Skeptiker Jacob Rees-Mogg, der Mann aus der Vergangenheit, der so affektiert daherredet, dass Zuhörer gar nicht merken, welche Unwahrheiten da gerade so parfümiert verbreitet werden. „Kein Deal ist immer noch besser als ein schlechter“, sagte der Multimillionär, der angeblich einige seiner Geschäftsanteile nach Irland verlagert hat. So viel zum Vertrauen in den Brexit.
Am liebsten wäre Rees-Mogg also ein Brexit ohne Austrittsabkommen. Nur raus aus der Gemeinschaft. Endlich befreit von den Ketten der verhassten EU. Danach die Sintflut. Die kommt unweigerlich.
Denn die Regierung hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie auf eine solche Eventualität alles andere als vorbereitet ist und ein bemerkenswertes Maß an Inkompetenz offenbart. Verkehrsminister Chris Grayling etwa beauftragte kürzlich ein Unternehmen damit, mit zusätzlichen Schiffsverbindungen die Lieferung von Waren auf die Insel zu sichern. Dover ist ohnehin überlastet, weshalb Fähren zwischen dem Hafen Ramsgate in Kent und dem belgischen Ostende Abhilfe schaffen sollten. Das entscheidende Detail, das niemandem im zuständigen Ministerium aufgefallen war: Die angeheuerte Firma verfügt nicht mal über Frachtschiffe. Und wird bis zum 29. März wohl auch keine beschaffen können.
Bei Grayling handelt es sich im Übrigen um denselben Politiker, der vergangene Woche damit scheiterte, einen künstlichen Stau zu organisieren, um den Ernstfall zu simulieren. Zu der Übung rollten gerade mal 89 Lastwagen. In der Realität aber fertigt die Hafenstadt Dover an geschäftigen Tagen 10.000 Lkw ab. Es wird nun bereits gemunkelt, dass eine Spur der Autobahn zum Quasi-Parkplatz umfunktioniert werden könnte. Die Europaskeptiker brüllen, diese Prophezeiungen seien reine Angstmacherei, genauso wie Warnungen, dass neue Unruhen in Nordirland ausbrechen könnten, sollte dort wieder eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz errichtet werden.
Um die zu verhindern, besteht die EU auf dem „Backstop“, eigentlich nur als Notfallversicherung gedacht. An ihm könnte der Deal am Ende scheitern, weil das Problem von vielen Beteiligten, darunter Ex-Außenminister Boris Johnson, schlicht ignoriert oder verharmlost wird.
Gesundheitsminister Matt Hancock findet es derweil amüsant, sich als „größter Kühlschrankeinkäufer der Welt“ zu bezeichnen. Mindestens sechs Wochen lang sollen in den Krankenhäusern des Landes Medikamente für den Fall vorgehalten werden, dass es durch einen ungeregelten Brexit zu Lieferschwierigkeiten kommt. Patienten, Ärzte und Pfleger sehen eine Katastrophe auf sich zukommen, Kühlschränke hin oder her. Auch Supermärkte beginnen Vorräte zu horten, und die Automobilindustrie sammelt Teile an.
In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit, könnten all diese Episoden vielleicht als lustig empfunden werden. Oder zumindest in ihrer Absurdität ein Lehrstück sein mit dem Titel „Wie sich ein Land selbst zerlegt“. Doch auf der Insel lacht niemand mehr. Wer durch das Königreich reist, trifft vielmehr auf eine tief gespaltene Bevölkerung. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge würden heute 54 Prozent für die EU-Mitgliedschaft stimmen, 46 Prozent dagegen. Eine andere Studie spricht von 51 zu 49 Prozent.
Vor dem Parlament zeigt sich, wie aufgeheizt die Stimmung ist
Allein die täglichen Auseinandersetzungen vor dem Westminster-Palast zwischen Pro-EU-lern und Brexit-Befürwortern zeigen, wie aufgeheizt die Stimmung ist. „Warum wird unser Votum nicht respektiert?“, kreischt am Montagmittag eine Frau mit Union-Jack-Flagge in der Hand. „Wir werden unserer Zukunft beraubt“, schimpft ein junger Mann vor einem Stop-Brexit-Poster. Darunter mischen sich Faschisten, die Journalisten Prügel androhen oder Abgeordnete wie Anna Soubry als „Nazi“ und „Verräter“ anfeinden. „Das ist es, was aus unserem Land geworden ist“, sagt die konservative Parlamentarierin. Sie kämpft für ein erneutes Referendum, ungeachtet der Warnungen, dass ein solches weitere Dämonen entfesseln könnte. Die Sorge vor Unruhen wächst, sollte „das demokratische Votum“ nicht respektiert werden.
Weshalb May kontinuierlich bekräftigt, ihr Land werde den EU-Austritt weder verschieben noch eine zweite Volksabstimmung anberaumen. Setze man das Ergebnis nicht um, würde man dem Vertrauen der britischen Öffentlichkeit in die Demokratie „katastrophalen Schaden“ zufügen, sagt die Premierministerin. Wirklich?
Wenn Reporterteams aus London ins Land ausschwärmen, treffen sie Menschen, die vom Theater in der Hauptstadt „die Schnauze gestrichen voll haben“, wie die 66-jährige Judith aus der Stadt Boston, einem Brexit-Zentrum, sagt. „Warum sind wir bis heute noch nicht ausgetreten? Ich will, dass die Politik das Ganze endlich hinter sich bringt.“ Von Binnenmarkt und Zollunion möchte Judith nichts hören. Die Abstimmung soll schnellstmöglich umgesetzt werden, das ist alles.
Dann die Brexit-Gegner. Einige würden sich mit einer soften Version der Scheidung zufriedengeben, um das Ergebnis des Referendums zu respektieren. Viele wünschen sich mittlerweile ein zweites – mit dem Selbstbewusstsein, dass es in ihrem Sinne ausgehen würde, auch wenn sie kaum neue Argumente für den EU-Verbleib präsentieren. Für einen Kompromiss sind sie, wie generell der Großteil der Parlamentarier, nicht zu gewinnen. Sackgasse.
Und dann lief die Brexit-Debatte völlig aus dem Ruder
Die EU ist auf der Insel ein verlässlicher Aufreger. Und Theresa May hat es tatsächlich geschafft, einen Deal zu präsentieren, der die Gemüter noch mehr erregt als die eigentliche Europafrage. Zum Start der fünftägigen Debatte um den Vertrag tickten etliche Abgeordneten in sehr unenglischer Manier aus. Szenen spielten sich ab, die man im ehrwürdigen Parlament so noch nicht gesehen hat. „Bullshit“, schrie ein Volksvertreter, nachdem Unterhaussprecher John Bercow einen Änderungsantrag zugelassen hatte, der die Regierung zwingt, im Fall der als sicher geltenden Niederlage am Dienstagabend in lediglich drei Sitzungstagen einen Alternativplan zu präsentieren. Einige Abgeordnete warfen Bercow vor, er habe die Regeln des Parlaments verletzt.
In der Mitte zerfasern sich die Meinungen, sowohl bei den Tories als auch in der oppositionellen Labour-Partei. Ein bisschen ist das, als ob die Politik in ihrer Parallelwelt „Wünsch dir was“ spielt und auf Durchzug schaltet, wenn jemand Fakten einwirft. Spielführer ist ausgerechnet Labour-Chef Jeremy Corbyn, der offenbar bis heute nicht weiß, was der Binnenmarkt genau bedeutet oder was die Zollunion mit der EU beinhaltet. In ihrer Ignoranz unterscheiden sich die Politiker von Labour keineswegs von jenen der Tories. Und der lebenslange Europaskeptiker Corbyn spekuliert auf Neuwahlen. Was diese bringen sollen, wo er doch selbst den Brexit unterstützt, bleibt sein Geheimnis.
Es ist dieser Tage schwer, das Vereinigte Königreich zu verstehen. Das, so scheint es, einfach nicht mehr verstanden werden will.
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