Der einsame Christian Wulff
Zum ersten Mal steht ein ehemaliger Bundespräsident vor Gericht. Es geht um Vorteilsannahme, aber auch um sein Privatleben, um Anschuldigungen und um intime Details.
„Ich sehne mich nach Ruhe.“ Christian Wulff hat lange geschwiegen und könnte auch jetzt seine Anwälte für sich sprechen lassen. Den Monolog jedoch, zu dem er gerade angesetzt hat, kann auch der eloquenteste Verteidiger so nicht halten, dazu sind in diesem Verfahren zu viele Emotionen im Spiel. Zu viel Zorn, zu viel Verbitterung, zu viele enttäuschte Hoffnungen auch.
21 Monate nach seinem Rücktritt als Bundespräsident erzählt Wulff vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover an diesem Donnerstag zum ersten Mal, wie er die Ereignisse erlebt hat, wie ausgeliefert er sich häufig fühlte und wie detailversessen die niedersächsische Justiz sein Privatleben und das seiner Familie durchleuchtet hat. Am Ende, nach einer guten Dreiviertelstunde, fasst er mit bebender Stimme alles noch einmal in einem Wort zusammen: „Ehrabschneidend.“
Wulff beklagt die "Penetranz" der Ermittler
Einen Prozess gegen ein ehemaliges Staatsoberhaupt hat es noch nicht gegeben in Deutschland – und einen Auftritt wie diesen vermutlich auch noch nicht. Wulff, sonst von eher zurückhaltendem, fast schon schüchternem Naturell, geht Staatsanwalt Clemens Eimterbäumer frontal an, beklagt sich wörtlich über die „Einseitigkeit“ der Ermittlungen und die „Penetranz“ der Ermittler, die sogar recherchiert hätten, ob er im Urlaub die Kurtaxe und den Strandkorb bezahlt habe.
45 Konten hätten Eimterbäumers Beamte überprüft, um ihren Verdacht der Bestechlichkeit zu erhärten, rechnet der Angeklagte Wulff vor, 37 Telefonanschlüsse hätten sie untersucht, eine Million Dateien und 400 Aktenordner sichergestellt. Jeder Winkel seines Lebens sei ausgeforscht worden, sein Haus bei Hannover durch eine Durchsuchung entweiht und seine Personenschützer auch noch nach den intimsten Details aus dem Alltag ihres Schützlings gefragt worden.
Wulff-Prozess wegen 719,40 Euro?
Mit dieser Summe soll der Filmproduzent David Groenewold im Jahr 2008 einen Besuch der Familie Wulff auf dem Oktoberfest in München subventioniert haben: 400 Euro für das Hotel, 110 Euro für den Babysitter, 209,40 Euro für ein Abendessen. Ob Wulff sich bei seinem Freund dafür revanchiert hat, indem er sich beim damaligen Siemens-Chef Peter Löscher für einen Film Groenewolds über den früheren Siemens-Manager John Rabe eingesetzt hat, der im Zweiten Weltkrieg tausenden von Chinesen das Leben gerettet hat, muss das Gericht nun in 22 Verhandlungstagen bis weit ins Frühjahr hinein klären. Der große Andrang allerdings bleibt zum Prozessauftakt aus. Auf der Pressebank sind noch ein paar Plätze frei – und im Zuhörerraum auch.
Die beiden Angeklagten bestreiten den Vorwurf, sich einen Gefallen erkauft zu haben bzw. käuflich gewesen zu sein. Noch beim Aus-checken aus dem Hotel, sagt Wulff, habe er Groenewold damals das Geld für den Babysitter in bar gegeben – und dass sein Freund einen Teil seiner Hotelrechnung übernommen habe, wisse er erst seit dem vergangenen Jahr. Auch diese 400 Euro hat er inzwischen bezahlt.
Auch Maria Furtwängler ist als Zeugin geladen
„Unsere Freundschaft war und ist ausschließlich privater Natur“, betont Groenewold in einer mehrseitigen Erklärung, die sein Anwalt verliest. Als er Löscher einen Brief geschrieben und ihn auf das Rabe-Projekt aufmerksam gemacht habe, sagt Wulff, „war der Film längst produziert und finanziert“. Und die Berichte erst, er sei auf der Wiesn an einer regelrechten Sause im Käfer-Zelt beteiligt gewesen!. Er, der Milch- und Bananensaftfan! „Eine Farce“ sei das, sagt Wulff. Weder habe er in München mehr gegessen noch mehr getrunken als sonst auch.
79 Seiten ist die Anklageschrift lang, mehr als 40 Zeugen hat das Gericht geladen, unter ihnen Wulffs inzwischen von ihm getrennt lebende Ehefrau Bettina und die Schauspielerin Maria Furtwängler, die damals mit auf dem Oktoberfest war. Frank Rosenow, der Vorsitzende Richter, hat es in seiner Kammer sonst mit Ladendieben, Vergewaltigern und Räubern zu tun. Er ist ein Mann, dem nichts Menschliches fremd ist und in Hannover für eine „Schnapsidee“ bekannt: In einem Verfahren wegen versuchten Totschlags ließ er einem alkoholsüchtigen Angeklagten Weinbrand besorgen, damit dieser überhaupt zu einer Aussage in der Lage war.
Richter: Verfahren gegen Wulff ist ein "Grenzfall"
Das Verfahren gegen Wulff hat er selbst als „Grenzfall“ bezeichnet - Ausgang offen. Es geht um die Grenzen zwischen persönlicher Freundschaft und politischer Beziehungspflege. Oder, etwas platter: Wann ist eine Einladung privater Natur und wann erwartet der Gastgeber, wenn auch unausgesprochen, über kurz oder lang eine Gegenleistung?
Wulff und der 14 Jahre jüngere Groenewold müssen nun beweisen, dass sie tatsächlich enge Freunde sind und nicht nur eine freundschaftlich verbundene Zweckgemeinschaft. Auch deshalb erzählen beide, wenn auch nur andeutungsweise, von ihren diversen Ehe- und Beziehungskrisen, in denen sie sich wechselseitig aufgemuntert hätten, von Wulffs zweiter Hochzeit, bei der Groenewold eine sehr private Rede gehalten habe, und von der Geburt von Wulffs Sohn Linus, nach der der Filmproduzent sogar seinen Urlaub unterbrochen habe, um nach Hannover zu fahren und den Eltern zu gratulieren. „Er saß am Tag meiner Hochzeit zwei Plätze neben mir“, sagt Wulff. „Das ist Freundschaft.“ Nur wie dokumentiert man eine Freundschaft so, dass sie auch gerichtsfest ist?
Selbst ein Freispruch macht nicht alles ungeschehen
Sicher ist: Die beiden haben sich bei den Dreharbeiten zum Film „Das Wunder von Lengede“ kennengelernt, sie duzen sich seit 2005, sie haben kurze Urlaube miteinander verbracht und verstehen sich offenbar auch jetzt noch gut. Als Wulff in den Gerichtssaal kommt, steht Groenewold schon etwas verlegen mit seinem Anwalt in einer Ecke. Ein fester, kumpelhafter Händedruck, eine angedeutete Umarmung: „Wir mögen uns“, wird Wulff später sagen. „Auch Politiker haben ein Recht auf Freunde.“
Andererseits weiß er natürlich, dass auch ein Freispruch nicht alles ungeschehen macht und ein zurückgetretener Bundespräsident auf dem Arbeitsmarkt der Politik praktisch unvermittelbar ist. „Die persönlichen Schäden werden bleiben, ein Leben lang“, sagt Wulff. Dazu ist in den zwei Jahren, in denen Deutschland so ziemlich alles über ihn erfahren hat, zu viel passiert. Höchst Privates wie sein Kontostand fand seinen Weg in die Zeitungen.
Und auch hochgradig Skurriles landete nach den ersten Berichten über die ungewöhnliche Finanzierung seines Eigenheimes auf seinem Schreibtisch wie jene Anfrage der inzwischen eingestellten Financial Times Deutschland, von der Wulff jetzt erzählt. Die habe in den turbulenten Tagen vor seinem Rücktritt wissen wollen, ob es denn stimme, dass er an seinem Gymnasium nur deshalb Schülersprecher geworden sei, weil er sich Stimmen mit Pfefferminzschokolade erkauft habe...
Wulff weiß nicht mehr, ob er mit Groenewold zum Essen verabredet war
Vor ihm liegt eine kleine, schwarze Ledermappe, in der die Notizen für seine Rede stecken, einige Stellen sind mit Leuchtstift hervorgehoben, andere handschriftlich ergänzt. Wulff, der gelernte Jurist, hat sich akkurat vorbereitet auf diesen Auftritt und stiehlt seinem Gegenüber, dem Ankläger Eimterbäumer, zumindest für den Moment die Schau. Anders als Groenewold, der von sich sagt, er sei beruflich ruiniert und gegenwärtig ohne Einkommen, lässt er die Ereignisse jener Oktoberfesttage nicht von einem seiner Anwälte rekonstruieren, sondern spannt selbst den ganz großen Bogen.
Er erzählt von seinen China-Besuchen, von den schwierigen Verhandlungen zwischen Porsche und VW, die er damals mit zu führen hatte, und vom Termindruck eines Ministerpräsidenten. Bei 311 offiziellen Gesprächen, 77 Arbeitsessen, 225 Reden, 195 Sitzungen und 220 Presseterminen in einem Jahr, bittet Wulff um Verständnis, könne er beim besten Willen nicht mehr sicher sagen, ob er am Abend vor dem Oktoberfestbesuch mit Groenewold zum Essen verabredet war.
Wulff gesteht Fehler ein
Dass er auch das Seine dazu getan hat, um die Dinge eskalieren zu lassen, weiß er inzwischen. Er stehe zu seinen Fehlern und habe in den vergangenen beiden Jahren viel gelernt, räumt Wulff ein, ohne konkreter zu werden. Vermutlich würde er Kai Diekmann, dem Chefredakteur der Bild-Zeitung, heute nicht mehr zornig auf die Mobilbox sprechen und sich genauer überlegen, ob er seine Ferien in den Residenzen befreundeter Unternehmer verbringt. Schließlich heißt es im niedersächsischen Ministergesetz, das auch für den Ministerpräsidenten gilt, die Mitglieder des Kabinetts hätten „jeden Anschein der Empfänglichkeit für private Vorteile“ zu vermeiden.
Das Angebot, das Verfahren gegen eine Geldbuße von 20 000 Euro einzustellen, hat Wulff abgelehnt. Er will einen Freispruch erster Klasse, sich rehabilitieren, für jeden sichtbar. Und weil er als Politiker gelernt hat, in Bildern zu denken, ignoriert er zunächst auch die Bitte des Richters Rosenow, sich zu setzen, damit die Sitzung beginnen kann. Wulff bleibt stehen, bis der letzte Kameramann den Saal verlassen hat. Ein ehemaliger Bundespräsident, der wie ein kleiner Sünder auf der Anklagebank sitzt: Dieses Bild will er von sich nicht sehen.
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