So war die erste Bürgersprechstunde mit dem Bundespräsidenten
In der „Bürgerlage“ redet Frank-Walter Steinmeier erstmals in einem festen Format mit Menschen, die von der Corona-Pandemie betroffen sind. Ein Premierenbericht.
Katrin Andres bleibt ruhig im Ton, ist aber sichtlich verärgert. "Es ist einfach mehr oder weniger komplett aussichtslos", sagt die Inhaberin eines Hotel- und Gaststättenbetriebs im bayerischen Freyung. Das familiengeführte Unternehmen steht wegen der Corona-Pandemie praktisch still, der Staat hat Unterstützung versprochen, doch die kommt nicht an.
Die Novemberhilfe sei beantragt, aber noch nicht ausbezahlt. Die Dezemberhilfe könne sie noch nicht einmal beantragen, sagt Andres, und sie erzählt das dem ersten Mann im Staate. Am anderen Ende der Videoleitung hört Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin geduldig zu. Er hat insgesamt sieben Bürgerinnen und Bürger zur "Bürgerlage" eingeladen. Ein Format, das neu ist und fortgesetzt werden soll.
Es ist in diesen Tagen einer der seltenen Fälle, wo einer "von denen da oben" dem Volk zuhört. Gerade die Bundespolitik in der Hauptstadt kreist in der Corona-Pandemie verstärkt um sich selbst. Am Sonntag wollen sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder erneut treffen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Sie werden erneut unter sich sein und wohl scharfe Corona-Maßnahmen beschließen. Würden sie auf den Rat der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der "Bürgerlage" hören, könnten sie sich eine lange Sitzung sparen.
Beim Bundespräsidenten geht es auch um einen harten Lockdown
"Wir müssen jetzt einen knallharten Lockdown haben", sagt etwa Norbert Vos, ein bodenständiger Maler und Lackierer, der sich seit vielen Jahren im nordrhein-westfälischen Stadtlohn ehrenamtlich im Jugendfußball engagiert und Träger der Verdienstmedaille ist. Der Teil-Lockdown sei nicht so richtig ernst genommen worden, beklagt er, jetzt werde es angesichts steigender Infektionszahlen und vieler Toter offenbar richtig gefährlich.
Katrin Andres müsste eigentlich ein Interesse daran haben, dass es weniger Auflagen gibt. Sie hat schon 20 Schließwochen hinter sich, das Geschäft ist am Boden. Aber auch die Hotelbesitzerin plädiert für einen harten Schnitt. Es gehe um die Gesundheit der Menschen, sagt sie. Mit einem harten Lockdown könnten schließlich auch die Chancen steigen, dass es im kommenden Jahr schneller wieder losgeht mit dem Reisen, den Übernachtungen und dem Essen gehen.
Bisher ist die Aussicht düster. "Es hat noch kein einziger Mensch bis Ostern gebucht", sagt Andres. Die Lage sei mehr oder weniger komplett aussichtslos. Am Betrieb hänge die Existenz der kompletten Familie, keiner wisse, wie es weitergehe. "Wir sind am Ende angelangt. Es ist jetzt Schluss, es geht nicht mehr", sagt Andres.
In der "Bürgerlage" hört Steinmeier aufmerksam zu
Der Bundespräsident hört aufmerksam zu. Die Moderation bei dieser Premiere übernimmt er selbst und schafft es, trotz der technikbedingten Distanz eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre aufzubauen. Einige der Mitmachenden hat er schon persönlich getroffen. Bei Andres etwa hat er im Juli 2018 übernachtet, die "Präsidentensuite" wird derzeit aber wie die meisten anderen Zimmer in ihrem Hotel nicht nachgefragt. Die live übertragene Videokonferenz – sie kann auf der Internetseite des Präsidenten (bundespraesident.de) nachgeschaut werden – hindert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht, eindringlich Probleme und Herausforderungen zu schildern, von denen viele Menschen nichts mitbekommen.
Birgit Brandtscheit ist die Initiatorin der "Zerbster Tafel" und weiß von Kindern zu berichten, die schon vor Corona mit Problemen zu kämpfen hatten und die vom Virus jetzt komplett aus der Kurve getragen werden. Es geht um analoge Uhren, die sie nicht ablesen können, um Hausaufgaben, die sie und ihre Eltern überfordern. "Wir nehmen uns die Zeit, wir schauen bei den Kindern hin und organisieren Hilfe", sagt sie.
Was Brandtscheit mit Andres verbindet, ist der Mangel an Geld. Ihre Tafel ist auf Spenden angewiesen, die fließen auch weiterhin. Aber die Höhe pro Spende hat abgenommen, berichtet sie. Die Menschen seien nicht etwa geiziger geworden in der Krise, sie würden vielmehr angesichts der Zunahme coronabedingter Probleme ihr Geld breiter streuen.
Die nächste "Bürgerlage" kommt im nächsten Jahr
Was Gaby Weber fehlt, sind die Umarmungen ihrer Mutter. Weber arbeitet in einer Altenpflegeeinrichtung in Bremen. Steinmeier wollte der Einrichtung eigentlich einen Besuch abstatten – der Termin war einer der ersten, der wegen Corona ins Wasser fiel. Weber hält sich ihres Berufes wegen mit Kontakten zurück. Sie wirkt, wie die meisten Pflegerinnen und Pfleger, anpackend und souverän, sie jammert nicht, macht sich aber große Sorgen. "Die Angst ist da, ob wir das alles im Griff behalten", sagt sie.
In der Runde sind noch eine Lehrerin, ein arbeitsloser junger Mann und eine Musikerin dabei. Auch sie haben von Einschnitten und Tiefschlägen zu erzählen. Sie tun es ohne die Überheblichkeit, die die Gäste vieler Talkshows auszeichnet. Steinmeiers "Bürgerlage" ist, auch dank des Zutuns des Gastgebers, ein gutes und glaubwürdiges Format. Die nächste Runde wird es im neuen Jahr geben. Einschalten lohnt sich.
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