Russische Armee: Azovstal und Mariupol sind gefallen
Das seit Monaten belagerte Mariupol ist ein strategisch wichtiges Ziel der Russen. Nun melden sie die "vollständige Befreiung" der letzten verbliebenen Kämpfer. Was bedeutet das für den Kriegsverlauf?
Nach Wochen blutiger Kämpfe steht das Stahlwerk Azovstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol nach Angaben aus Moskau unter russischer Kontrolle.
Alle Kämpfer hätten sich ergeben, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Freitagabend in Moskau. Es seien insgesamt 2439 ukrainische Soldaten seit dem 16. Mai in russische Gefangenschaft gekommen. Das Werk war das letzte Stück der strategisch wichtigen Stadt im Südosten der Ukraine, das noch nicht komplett unter russische Kontrolle gewesen war.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu selbst habe Präsident Wladimir Putin über die "vollständige Befreiung des Werks und der Stadt Mariupol" berichtet, sagte Konaschenkow. Der Einsatz russischer Soldaten sei damit nun abgeschlossen worden. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung dafür.
Monatelange Belagerung
Russische Truppen hatten mit der Belagerung von Mariupol bereits kurz nach ihrem Einmarsch in die Ukraine Ende Februar begonnen. Bilder einer zerstörten Geburtsklinik gingen um die Welt. Wochenlang harrten Zivilisten in Kellern aus, selbst Trinkwasser fehlte in der umkämpften Stadt. Erst nach vielen gescheiterten Anläufen wurden Zivilisten aus der Stadt evakuiert. Zuletzt konzentrierten sich die russischen Angriffe auf das Stahlwerk, in dessen weitläufigen Kellern sich die letzten Verteidiger der Stadt verschanzt hatten.
Am Freitag kam nach Angaben des Ministeriums die letzte Gruppe von 531 Kämpfern in Gefangenschaft, hieß es in der Mitteilung des Ministeriums. Die Industriezone war seit dem 21. April von russischen Truppen blockiert gewesen. Der Kommandeur des Asow-Regiments sei in einem speziellen gepanzerten Fahrzeug abtransportiert worden.
Noch Stunden zuvor hatten die verbliebenen ukrainischen Verteidiger des Stahlwerks am Asowschen Meer erstmals erklärt, dass sie einem Befehl ihrer Armeeführung zufolge die Verteidigung der Stadt einstellen sollen. Das erklärte der Kommandeur des umstrittenen Nationalgarderegiments "Asow", Denys Prokopenko. Damit sollten Leben und Gesundheit der Soldaten der Garnison geschützt werden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte am Freitag - in einem noch vor der russischen Verkündung der Einnahme aufgenommenen Fernsehinterview - den Westen für den Rückzug der Ukrainer aus dem Werk mitverantwortlich. Er habe die westlichen Staats- und Regierungschefs wiederholt aufgefordert, sein Land mit "geeigneten Waffen" zu versorgen - "damit wir Mariupol erreichen können, um diese Menschen zu befreien".
Erste Kapitulationen Anfang der Woche
Am Montag hatten sich bereits die ersten 264 Soldaten ergeben, darunter über 50 Schwerverletzte. Nach russischen Angaben kamen am Donnerstag weitere in Gefangenschaft. Die Kommandeure und einige Kämpfer hatten bis zuletzt die Stellung gehalten. Insgesamt wurde in Moskau stets von rund 2500 ukrainischen Kämpfern ausgegangen. Die Regierung in Kiew hingegen hatte deren Zahl nur mit 1000 angegeben.
Bis zuletzt sprach die ukrainische Führung auch von einer "Rettungsoperation" statt einer Kapitulation und stellte einen baldigen Gefangenenaustausch mit Russland in Aussicht. Die Asow-Kämpfer hatten immer wieder um Hilfe von den ukrainischen Streitkräften gebeten. Russland führt seit knapp drei Monaten einen Angriffskrieg gegen den ukrainischen Nachbarn.
Mit Mariupol kontrollieren die russischen Kräfte nun die komplette Küste des Asowschen Meeres. Damit könnten die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek formal eigenständig bleiben. Mit Mariupol haben sie den Zugang zu den Weltmeeren. Sie können nun über den gut ausgebauten größten Hafen am Asowschen Meer ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg selbst exportieren.
Viel diskutiert wird auch der Landweg von Mariupol zu der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. Die Straßenverbindungen dürften jedoch wegen ihres schlechten Zustands für Russland kaum von Interesse sein. Als wichtig auch im militärischen Sinne gelten vielmehr die weiter nördlich verlaufenden Eisenbahnverbindungen über die kürzlich von den russischen Truppen eroberte Stadt Wolnowacha in Richtung des bereits seit Ende Februar von Russland kontrollierten Melitopol und von dort zur Krim.
Beharrlicher Widerstand
Mariupol hat aber vor allem auch für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment "Asow" eine große symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von prorussischen Separatisten kontrollierte Hafenstadt. In dem nun wochenlangen Kampf um die Stadt betonten Ukrainer immer wieder: Wenn Mariupol gerettet werde, dann werde die Ukraine gerettet.
"Asow" hatte zuvor bereits seine Basis bei der benachbarten Hafenstadt Berdjansk verloren. Da Mariupol nun auch noch gefallen ist, gilt dies als Niederlage des Kerns der von den russischen Truppen mit besonderer Härte bekämpften Einheit. Russland feiert dies als einen großen Teilsieg in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine.
Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen die russische Invasion sorgte lange dafür, dass nach ukrainischen Angaben eine russische Gruppierung von etwa 14.000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden war. Mit dem Fall der Hafenstadt wird diese nun frei. Die Soldaten könnten für die seit langem erwartete russische Offensive in Richtung Slowjansk und Kramatorsk das entscheidende Übergewicht bringen.
(Von Ulf Mauder, Andreas Stein und Christian Thiele, dpa)
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Eine etwas andere Sicht der Entwicklung . . .
"Unsere heutigen Heeresberichte stammen aus der Feder von Wolodymyr Selenskyj und der Schaukasten heißt Internet. Zuweilen im Stundentakt meldet er gegnerische Verluste, spricht von zurück eroberten Teilgebieten und verkündete dann am Wochenende den finalen Schlag: Die Ukraine habe der russischen Armee „das Rückgrat gebrochen“, sagte Selenskyj in einem am Samstag ausgestrahlten Fernsehinterview: “Sie werden die nächsten Jahre nicht mehr auf die Beine kommen".
Wer mit der langjährigen Leiterin des Nato Foresight Teams, Dr. Stefanie Babst, spricht, der bis vor Kurzem ranghöchsten Frau in der europäischen Nato, kommt zu gänzlich anderen Erkenntnissen als Selenskyj.
Demnach hat die Ukraine keineswegs der russischen Armee das Rückgrat gebrochen, sondern – im Gegenteil – sie wird von eben jener Armee erwürgt." (Gabor Steingart, 23. 5. 2022, Focus online)
https://www.focus.de/politik/experten/ziemlich-prekaere-situation-putins-armee-greift-jetzt-mit-boa-constrictor-strategie-an_id_103711483.html
Danke für den Hinweis auf den gut geschriebenen Artikel von heute in Focus online mit der zentralen Aussage: „Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.“
Deutschland ist (noch) nicht Kriegspartei, trotzdem werden wir tagtäglich schändlich belogen. (Lindner kann doch z. B. die Tatsache, dass er es als Gastgeber nicht vermochte, bei dem letzten G7-Finanzministertreffen die benötigten 15 Mrd. Euro für die Ukraine einzusammeln, mit der Formulierung „die Erwartungen wurden übererfüllt“ aus der Welt schaffen.)
Interessant auch die Formulierungen „Der Staat hat seine Prioritäten neu sortiert.“ und „Die Verteidigungsministerin darf nunmehr 150 Milliarden Euro ausgeben, derweil die Bildungsministerin sich mit 20,3 Milliarden Euro, und damit mit 500 Millionen Euro weniger als in 2021, begnügen muss.“ (Bis vor Kurzem galt Bildung als ein Mittel, um die Probleme einer immer älter werdenden Gesellschaft zu begegnen. Aber ja, hier wurde in einem Leserkommentar vor Kurzem quasi auch gefordert, die humanistische Bildung in Deutschland abzuschaffen, evtl. zu Gunsten von Mandarin als weiterer Fremdsprache.)
Man hat die Fähigkeiten der RU Armee im Vorfeld des Krieges sicherlich überschätzt, was sich bei den Misserfolgen im Raum Kiew
deutlich gezeigt hat. Aber in der Südukraine hat RU mit beträchtlichem Erfolg die gesetzten Ziele erreicht; Verbindung von der Krim zum Donbass und die vollkommene Kontrolle des Asowschen Meeres. Wer geglaubt hat man kann eine schwer verteidigte Stadt wie Mariupol in wenigen Tagen einnahmen ist naiv bzw hat keine Ahnung von den Schwierigkeiten der Kriegführung in städt. Strukturen.
Zudem hat Russland die Schlangeninsel am Eingang zur Seezufahrt nach Odessa eingenommen und damit die Kontrolle über den Seeverkehr dort übernommen; die Insel schwer und verlustreich umkämpft, aber von RU gehalten- damit ist der UA einziger Seehafen praktisch blockiert. Durchaus vergleichbar mit Kämpfen im Pazifik um an sich "wertlose" Inseln, aber von hoher strategischer Bedeutung für den Kriegsverlauf. In den nächsten Wochen wird sich zeigen ob die UA Armee Teile des Donbass verteidigen kann.
Man sollte trotz erkannter Schwächen den Gegner nie unterschätzen; da hilft auch keine Propaganda.
Ich schätze ihre kenntnisreichen und präzise formulierten Beiträge. Aber ich habe bei Ihnen immer den Eindruck, als stünden Sie dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine nicht ablehnend, sondern sogar wohlwollend gegenüber.
Natürlich haben die westlichen Verbündeten Fehler im Umgang mit Russland und seinen sicherheitspolitischen Interessen gemacht, aber das rechtfertigt niemals diesen Krieg und das hat m. E. auch niemals die ständigen und mannigfaltigen Versuche Russlands in den letzten 20 Jahren gerechtfertigt, die westlichen Demokratien zu destabilisieren.
Auch die Bürger Russlands haben übrigens ein Recht auf freie Wahlen und freie Meinungsäußerung. Sie selbst nehmen diese Rechte in unserem Land ja auch gerne wahr, oder?
Antwort an Wolfgang L: Ich spreche hier nicht für Moskau, sondern versuche nur die Lage neutral darzustellen und nicht das
Ganze nur mit der westl Brille zu sehen. Vorbilder für mich sind Leute wie Peter Scholl- Latour, der oft die Finger in die Wunde gelegt wie zum Bsp Vietnam Krieg. Mich stört das Nazi Gerede aus Russland ebenso wie das großmäulige Auftreten der Kiewer Führungsmannschaft. In jedes Mikrofon steckt der UA Präsident seine Nase und versucht jedem Land eine Videokonferenz auf Parlamentsebene aufs Auge zu drücken und nötigt ausländ. Politiker zu Foto-Besuchen in Kiew; nur bei Scholz ist er bisher gescheitert.
Sie werden der ukrainischen Führung aber sicher zugestehen, dass sie einen existenziellen Überlebenskampf führt und in solch einer Lage wird eben jedes zur Verfügung stehende Mittel zur Verteidigung herangezogen. Putin würde zudem keine Sekunde zögern, Selenskyj umbringen zu lassen, wenn er die Möglichkeit dazu hätte.
Was mir bei Selenskyj fehlt, ist die Bereitschaft, über ein Szenario nachzudenken, wie dieser Krieg schnellstmöglich beendet werden kann. Weder Russland noch die Ukraine werden ihre ausgerufenen Ziele noch erreichen. Wir haben inzwischen längst einen Punkt erreicht, an dem alle (und das schließt die EU und viele andere direkt oder indirekt betroffene Länder ein) mit jedem weiteren Tag Krieg nur noch verlieren können. Leider gibt es viele Beispiele in der Geschichte, die zeigen, dass in solch einer Lage Kriege oft erst so richtig beginnen.
Antwort an Wolfgang L: Stimme Ihrem letzten Kommentar zu. Die Ukraine und seine Verbündeten hätten spätestens dann gewarnt sein müssen, als Putin ankündigte, dass die RU Sicherheitskräfte die Antworten des Westens auf den sicher überzogenen RU Forderungskatalog analysieren würden und Gegenmassnahmen diskutiert würden. Schroff hat der Westen praktisch alle RU Forderungen aus der Position des vermeintlich Stärkeren zurück gewiesen und auf irgendwelche möglichen Rüstungsbegrenzungsschritte in der Zukunft verwiesen. Der Standpunkt Kiews das Minsk 2 Abkommen in der vorliegenden Form im Hinblick auf die Teilautonomie des Donbass nicht zu akzeptieren wurde vom Westen stillschweigend hingenommen. Parallel dazu hat der UA Präsident auch noch ein internat. Forum zur Rückführung der Krim initiiert.