Vier Jahre nach dem Logopäden-Fall: Wie die Kickers einem schwer traumatisierten Jungen einen Moment der Freude schenken
Marco wurde von seinem Therapeuten brutal missbraucht. Bis heute leidet er darunter. Ein Auftritt am Rande eines Fußballspiels sorgte jetzt für einen Lichtblick.
Ein paar Dutzend Schritte sind es aus den Katakomben des Stadions am Würzburger Dallenberg hinaus ins Licht, hinein in den Mittelkreis. Für jedes Mädchen und jeden Jungen, der vor mehreren hundert Zuschauerinnen und Zuschauern mit den Regionalliga-Spielern der Würzburger Kickers im Spiel gegen Illertissen aufs Spielfeld einlaufen darf, ist das ein Erlebnis. Für den elfjährigen Marco ist es am Ostermontag aber noch viel mehr. Kaum jemand im Publikum ahnt, was dieser magische Moment für den Buben bedeutet: herauszukommen aus dem Dunkel seiner Erinnerung, hinein ins helle Leben.
Marco kann seine Gefühle nicht schildern. Denn der Junge, der in Wirklichkeit ganz anders heißt, ist schwerbehindert und kann nicht sprechen. Das ist schon Last genug für ihn und seine Familie. Aber Marco hat es noch schlimmer erwischt: Er war einer der sieben Kinder, deren Hilfsbedürftigkeit ein pädophiler Logopäde aus Würzburg jahrelang ausgenutzt hatte, um ihnen schwerste sexualisierte Gewalt anzutun.
Das Opfer leidet noch heute an den Taten
Der Elfjährige leidet - wie die anderen Opfer - auch vier Jahre später noch immer unter den Folgen. Um dafür in einer breiteren Öffentlichkeit Verständnis zu wecken, hat Marcos Mutter der Redaktion tiefe Einblicke gegeben und erlaubt, zu schildern, worüber sonst kaum jemand redet.
2019 wurde der Logopäde festgenommen - und ein Jahr später dann wegen schweren sexuellen Missbrauchs zu elf Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Doch mit Prozessende war der Fall nicht abgepfiffen wie ein Fußballspiel. Was öffentlich oft verdrängt wird: Die Opfer und ihre Eltern litten und leiden weiter.
Viele schweigen voller Scham darüber, wie schwer es ist, die traumatischen Folgen zu überwinden. Wie man entsetzt merkt, dass ein Kind - eh schon gehemmt in seiner Entwicklung - um Jahre zurückgeworfen wird, nicht mehr redet, merkwürdig scheut, wenn es von Fremden angesprochen wird oder plötzlich wieder in die Hose macht.
Denn das Trauma kommt immer wieder, wenn eine Berührung, ein Wort, ein Geruch die Erinnerung an die schrecklichen Taten weckt. Marco und seine Mutter Doris haben sich entschlossen, nicht heimlich auszusitzen, was da Furchtbares geschah, sondern offen über seine Fortschritte zu sprechen, aber auch über die Rückschläge und Enttäuschungen.
Wie unversehens die Erinnerung hochkocht
Vor kurzem habe die Familie ein Haus im Landkreis Würzburg angeschaut, in das sie einziehen wollten, berichtet die Mutter. Plötzlich habe der gerade noch so fröhlich von Zimmer zu Zimmer laufende Marco laut los geschrien. "Er war nicht zu beruhigen." Dann habe der Vater den Grund für die Aufregung gesehen: Der Fußboden in dem Zimmer hatte das gleiche Muster wie der in dem Raum im Kindergarten, in dem der Therapeut Marco missbraucht hatte. "So eine Kleinigkeit reicht manchmal, um die Erinnerung an die Taten wieder hochkochen zu lassen."
Marco sei zudem sehr schreckhaft, wenn man sich von hinten nähert. "Geht das zu schnell, bekommt man einen Schlag ab", so die Mutter. Die Rollos an den Fenstern müssten immer oben sein: "Ist einer unten, will Marco ihn sofort hochziehen." Und beim Gang auf die Toilette müsse man ihn behutsam reinigen. "Am besten sagen wir immer davor, was gemacht werden muss, damit er sich darauf einstellt und es zulässt." Marco verarbeite viel nachts - in seinen Träumen. Deshalb brauche er auch bis heute eine Einschlafbegleitung.
"Der Täter hat ihn mundtot gemacht"
"Das größte Manko ist, dass er seine Nöte gerne aussprechen möchte, aber anscheinend große Angst hat irgendetwas zu reden", sagt die Mutter. "Der Täter hat ihn mundtot gemacht."
Hilfe erhielt die Familie von Freunden, von Eltern anderer Kinder, die Marco sogar eine Delfintherapie bezahlten. Weniger gut zu sprechen ist die Mutter auf die, wie sie sagt, "bürokratische Beurteilung der Sachlage" durch die staatliche Opferhilfe: Die habe das Missbrauchsopfer und seine Mutter von einem Sachverständigen zum nächsten geschickt, Anträge angefordert und die Familie schließlich lange warten gelassen, um ihr am Ende mitzuteilen: Leider könne man dem Verbrechensopfer Marco keinen Cent zahlen. Es lasse sich nämlich nicht klären, welche Schäden von seiner Behinderung stammen und welche von dem Missbrauch, habe es zur Begründung geheißen. Die Mutter will mit ihrer Anwältin weiterkämpfen, um Marcos Anspruch doch noch durchzusetzen.
Kickers fragten nach Ballkindern
Gut, dass es da auch die positiven Momente gibt: Die Würzburger Kickers hatten eine E-Mail an Marcos Schule geschickt. Es sei ein Anliegen des Vereins, die Inklusion zu fördern, schrieb Pressesprecher Matthis Frankenstein. "Ihr seid als Ballkind gefragt", hieß es weiter, "eure Aufgabe ist es, zu Beginn des Spiels den Ball ins Stadion zu bringen."
Schnell war die Mutter überzeugt: "Ich habe zurückgeschrieben, dass Marco Fußball liebt und ich mir das vorstellen kann." Die Kickers sagten zu. Es war ein Erlebnis, das keiner der Beteiligten vergessen wird: Marco sei das erste Mal im Stadion gewesen. "Er wollte direkt auf das Spielfeld und mit den Stars mitspielen", schildert Mutter Doris, den Tränen nahe. Die Spieler waren gerade beim Aufwärmen für das Duell gegen Illertissen, anschließend durfte der Junge mit in die Kabine. Auf dem Weg dorthin habe er gestoppt: "Der Fanblock mit den Trommeln hat ihn fasziniert. Eigentlich wollte er sofort mit anfeuern."
Ein unvergesslicher Gang ins Stadion
In der Kabine machte sich Marco mit den übrigen Einlauf-Kids startklar, der große Moment war da - raus aus dem Dunkel, hinein ins Licht, dem Beifall entgegen. Gerührt sah die Mutter, wie alle Spieler Marco abklatschten - und der Elfjährige das Erlebnis genoss. "Klar war er leicht überfordert - und der Reiz, den Ball wegzukicken, war groß", schmunzelt sie. Auch die Schiedsrichter hätten ihn einfühlsam angesprochen. Dann nahm Marco mit seinen Eltern auf der Tribüne Platz – überwältigt von dem Erlebnis. "Er fand das toll und hielt 45 Minuten durch."
Für Mutter Doris war dieser Anblick ebenso kostbar wie für ihren Sohn. Sie habe seit langem mal wieder erlebt, dass Inklusion funktionieren kann: "Danke an die Kickers und alle, die an diesem Tag mitgewirkt haben, dass unser kleiner Mann das erleben durfte."
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