Nach dem Brexit: Warum Großbritannien nie so ganz dabei war
Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser erklärt, wie es zu der Entscheidung gegen die EU kommen konnte und weshalb im Brexit auch eine Chance für den Kontinent liegt.
Herr Abelshauser, die Briten haben tatsächlich für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Werner Abelshauser: Ein bisschen schon. Und zwar vor allem, weil ich auf die alte britische Tradition vertraut habe, dass die Buchmacher immer recht haben. Diesmal haben sie sich geirrt – das ist das Einzige, was mich irritiert.
Fanden Sie die Warnungen vor einem Brexit übertrieben?
Abelshauser: Vieles war aus der Luft gegriffen. Manches kann so eintreffen, manches ist pure Spekulation. Man hätte vorsichtiger sein müssen: einmal in der Einschätzung der britischen Situation, einmal bei den Konsequenzen. Denn über die Konsequenzen weiß niemand so recht etwas.
Großbritannien und die EU haben schon länger miteinander gehadert: War abzusehen, dass es irgendwann so weit kommen könnte?
Abelshauser: Dass es so kommen könnte, damit musste man rechnen. Absehbar war es nicht. Es war ein knappes Ergebnis. Tatsache ist, dass die Briten nie so ganz dabei waren. Sie haben das Werden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von außen betrachtet, waren skeptisch, wollten stattdessen eine Freihandelszone haben. Es war von Anfang an so, dass die Briten außen vor waren. Als die Briten der EWG dann doch beitreten wollten, hat der damalige französische Präsident de Gaulle es zunächst verhindert.
Haben die Briten auch selbst eine Sonderrolle angestrebt?
Abelshauser: Ja. Nehmen Sie das europäische Währungssystem, das Helmut Schmidt mit Giscard d’Estaing ausgemacht hat: Da waren die Briten zwar Mitglied, haben aber das Pfund nicht dem Wechselkursmechanismus unterworfen. Dennoch bestanden sie auf dem Recht, über die Regeln mitzuentscheiden.
Woran liegt es, dass die Briten eine Sonderrolle anstreben?
Abelshauser: Das lag zunächst einmal daran, dass die Briten in den 1960er/1970er Jahren von einer Wirtschaftskrise in die andere geschlittert sind und zutiefst verunsichert waren. Zum anderen mussten sie das mentale Problem bewältigen, vom Status einer Großmacht abzusteigen in ein System, in dem sie nur einer von vielen sein konnten. Großbritannien hat sich in eine Sonderbeziehung zu den USA geflüchtet. Es fühlte sich besser an, Partner einer Supermacht zu sein, als in der europäischen „Zwergenwelt“ aufzugehen. Was den Euro angeht, musste Großbritannien während der Spekulationskrise 1992 sehen, wie gefährlich es war, in ein Europäisches Währungssystem (EWS) eingebunden zu sein – war man doch erst kurz zuvor in das EWS eingetreten. Was die Briten von Anfang an wollten, war Teilhabe am europäischen Binnenmarkt. Auf alles andere, was die Brüsseler Bürokratie an Blüten hervorgetrieben hat, konnte man in Großbritannien immer verzichten, während die Deutschen eine größere Idee dahinter sahen: die politische Union.
Dann haben die Briten nun ja gewissermaßen bekommen, was sie wollten.
Abelshauser: Das kommt jetzt darauf an, wie man miteinander umgeht. Das ist schwer vorherzusagen. Einen jahrelangen Streit über Kleinigkeiten halte ich nicht für wahrscheinlich. Für realistischer halte ich: Die Briten akzeptieren die Regeln des Binnenmarkts, dürfen an ihm teilnehmen und sagen: „Alles andere macht ihr bitte schön alleine.“
Ging es denn bei dem Referendum um sachliche Argumente oder um eine Sehnsucht nach der Vergangenheit?
Abelshauser: Sehnsucht nach der Vergangenheit ist mir zu einfach. Die Briten sind sehr rational und sehr nüchtern. Vieles, was heute in der Europäischen Union passiert, ist für Briten sehr schwer nachzuvollziehen. Es ist ein endloser Strom bürokratischer und lästiger Vorschriften, die der britischen Wirtschaftskultur nicht entsprechen. Ich glaube, das hat in Großbritannien eine große Rolle gespielt. Das Gefühl gibt es in Deutschland auch. Nur glaubt man in Deutschland, dass es notwendig sei, Europa immer weiter zu einigen, will man nicht in einer globalisierten Welt untergehen. Die Briten wissen, dass es auch anders geht. Und wenn wir einen Blick auf die Schweiz werfen, wissen wir, dass sie in diesem Punkt recht haben. Selbstverständlich kann auch ein kleines Land auf dem Weltmarkt erfolgreich sein, wenn es nur wettbewerbsfähig ist.
Weltweit sind Freitag früh die Werte an den Märkten abgestürzt: der Dax zunächst um zehn Prozent, das britische Pfund auf den tiefsten Stand seit 1985. Gab es in der Geschichte vergleichbare Einbrüche?
Abelshauser: Nicht in Bezug auf die europäische Integration, da hat das bislang keine Rolle gespielt. Aber natürlich gab es solche Einbrüche. Zuletzt 2008, davor 2000. Das ist alles nicht unbedingt neu und es wird sich im Übrigen dieses Mal schon bald wieder normalisieren. Ähnliches gilt für den Kurs des Pfundes.
Ist die Aufregung um den Brexit also nicht gerechtfertigt?
Abelshauser: Die Katastrophen, die an die Wand gemalt wurden, werden nicht eintreten. Wenn ich Aktien hätte, würde ich sie jetzt nicht verkaufen. Ich hätte höchstens am Freitag Geld angelegt, weil die Preise nun relativ niedrig sind.
Wie wird sich der Brexit langfristig auswirken?
Abelshauser: Bis Großbritannien ausgetreten ist, ist es noch ein langer Weg. Und da gibt es – da bin ich mir sicher – noch jede Menge Möglichkeiten, sich in beiderseitigem Interesse pragmatisch zu verständigen.
Was meinen Sie damit?
Abelshauser: Die anderen 27 EU-Mitglieder könnten auf ähnliche Ideen kommen. Sie könnten sagen: „Lasst uns einen Punkt machen und nicht in den Superstaat weitergehen in einer Zeit, in der der europäische Souverän offenbar gar nicht will, dass wir weitergehen.“ Ich würde dazu raten, jetzt eine Denkpause im Immer-weiter-Fortschreiten zu machen und Wert darauf legen, das Gute, das wir erreicht haben – und das ist vor allem der Binnenmarkt – zu konsolidieren und zu verbessern. Wir sollten überlegen, was wir wirklich gemeinsam machen wollen und was nicht.
Kann Kontinentaleuropa ohne die Briten?
Abelshauser: Aber ja. Die meiste Zeit und in den wichtigsten Fragen sind wir ohne die Briten ausgekommen. Die Briten lassen sich in wirtschaftlicher Sicht fast auf London reduzieren. Und die Kapitalmarktwirtschaft ist überall zu Hause.
Liegt im Brexit eine Chance für Europa?
Abelshauser: Ich hoffe, dass Europa daraus Lehren zieht. Wir haben in Europa sehr unterschiedliche Wirtschaftskulturen. Ich bin der Meinung, dass die wirtschaftliche Stärke Europas immer darin lag, die Wettbewerbsvorteile seiner Wirtschaftskulturen zu nutzen. Diese droht Europa zu verlieren, wenn es weiter auf dem Weg voranschreitet, alles zu harmonisieren. Da, wo man europäische Staaten und Regionen gezwungen hat, den Einheitsweg zu gehen, ist es gescheitert. Nicht nur Großbritannien sollte seinen eigenen Weg gehen – innerhalb oder außerhalb der EU.
Werner Abelshauser, 71, ist Forschungsprofessor für Historische Sozialwissenschaft in Bielefeld und Wirtschaftshistoriker.
Interview: Niklas Molter
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