Noras Familie durchlebt ein Martyrium
Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Nora beginnt am Mittwoch. Die Familie des Opfers wird dem Angeklagten Auge in Auge gegenüber sitzen: "Das sind wir unserer Tochter schuldig", sagt die Mutter.
Von Peter Richter und Klaus Utzni, Augsburg
Roswitha B. verlässt kaum mehr die gemeinsame Wohnung, die in einem großen Mietshaus im Stadtteil Haunstetten liegt. Die Einkäufe für die Familie erledigt ihr Mann. Seit dem furchtbaren Mord an ihrer Tochter scheut die 48-jährige Frau andere Menschen.
Ganz in Schwarz gekleidet sucht sie zweimal die Woche den Nordfriedhof auf. In Gedanken versunken sieht man sie dann lange vor dem frischen Grab ihrer Tochter stehen. "Ich würde Nora da am liebsten mitnehmen", beschreibt sie ihre Gefühlslage. Tränen schießen ihr dabei in die Augen.
Nora B. wurde 18 Jahre alt. Das hübsche, lebenslustige Mädchen fiel in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember vorigen Jahres einem scheußlichen Sexualverbrechen zum Opfer. Seitdem ist das Leben für Familie B. nicht mehr, wie es war. Und wird wohl nie mehr so sein.
Der Prozess gegen ihren mutmaßlichen Mörder, einen 17-jährigen Maurerlehrling, beginnt kommenden Mittwoch vor dem Augsburger Landgericht. Er ist nicht öffentlich, wegen des jugendlichen Alters des Angeklagten. Nach seiner Festnahme hatte der 17-Jährige die Tat gestanden. Auf der Straße, nur wenige Schritte vor der Haustür, wo ihr Freund wohnt, kaum 800 Meter von der elterlichen Wohnung entfernt, hatte der Jugendliche Nora von hinten gepackt, zu Boden gerissen und ihr Tritte mit seinen Springerstiefeln gegen den Kopf versetzt. Zurück blieb eine Blutlache. In einem benachbarten Garten, so die Anklage, habe der 17-Jährige die junge Frau dann missbraucht und sein schwer verletztes Opfer anschließend erwürgt.
An den voraussichtlich fünf Verhandlungstagen wollen Noras Eltern zumindest zeitweise mit im Gerichtssaal sein. Auch wenn es gerade für Roswitha B. ein Martyrium sein wird. Die Eltern sind sich nicht sicher, ob sie den Anblick des Angeklagten lange werden ertragen können. Seit dem Verbrechen ist Noras Mutter in therapeutischer Behandlung, muss sie ihren seelischen Kummer täglich durch Tabletten betäuben.
Auch Dounia und Nadia, ihre älteren Schwestern, sowie ihr Stiefbruder Richard haben angekündigt, dem Angeklagten Auge in Auge gegenüber sitzen zu wollen. Die Familienangehörigen treten im Prozess als Nebenkläger auf. "Und wenn es noch so weh tut, das sind wir unserer Tochter schuldig", glaubt die Mutter.
Im Augsburger Klinikum hat sie ihre Tochter ein letztes Mal sehen können. Als Leiche. Ärzte hatten vorsorglich einen Schleier über ihr Gesicht gelegt. "Ich habe trotzdem den Schleier weggezogen", berichtet Roswitha B. und senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. "Sie war nicht mehr zu erkennen. Ihr Gesicht war furchtbar zugerichtet."
Das Interview mit unserer Zeitung findet auf Wunsch von Roswitha B. und ihrem Mann statt. Abdelmalek B. ist gebürtiger Marokkaner. Vor 40 Jahren ist er nach Deutschland gekommen. Seinem Traumland, wie er in fließendem Deutsch erläutert. Hier hat er als 19-Jähriger Maschinenmechaniker gelernt und bei namhaften Unternehmen wie Daimler Benz, MAN und Siemens gearbeitet. 1981 haben er und Roswitha geheiratet. Vor einigen Jahren musste er seine Arbeitsstelle aufgeben. Der 60-Jährige ist an Parkinson erkrankt.
Möglichst viele Menschen, wünschen sich Noras Eltern, sollen wissen, was für eine liebenswerte junge Frau die Getötete war. Alles schien für die 18-Jährige gut zu laufen. Nach längerem Suchen hatte Nora gerade eine Lehrstelle als Bürokauffrau angetreten. Zudem hatte sie im September ihre Führerscheinprüfung bestanden. Gefragt, wie Nora war, nennen Eltern und Geschwister Eigenschaften wie "hilfsbereit, unkompliziert, freundlich, beliebt, gefühlvoll". Nora sei gerne mit der Familie zusammen gewesen.
Betroffen haben ihre Angehörigen in den zurückliegenden Monaten erlebt, dass in den Medien viel über den Täter - angeblich ein "Schwiegermuttertyp" - aber nur wenig über das Opfer berichtet wurde. Eine Klage, die nach spektakulären Verbrechen häufig von Hinterbliebenen geäußert wird.
Am Abend vor dem Gespräch mit unserer Zeitung hatte noch der Familienrat getagt. Hatten die Eltern und Noras Schwestern beraten, wie sie den Verlust eines geliebten Menschen am treffendsten in Worte kleiden könnten. Ihre handschriftlichen Notizen, die in der kleinen Wohnküche bereitliegen, verraten dieses Ringen. Ein ums andere Mal sind Formulierungen durch neue ersetzt, ganze Sätze wieder getilgt.
Weil unerfahren im Umgang mit Journalisten, haben die Eltern zwei Augsburger Rechtsanwälte, Marion Zech und Bernd Scharinger, gebeten, beim Gespräch mit dabei zu sein. Auch von anderer Seite erfährt die Familie Unterstützung. "Einige Menschen haben sich sehr liebevoll um uns gekümmert", berichtet der Vater. Anderen sei anzumerken, "dass sie unsicher sind, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollen".
Auch nachts findet die Mutter kaum Ruhe
Die Familie ist dankbar, dass ihr im Umgang mit Behörden wie finanziell von der Opferorganisation "Der Weiße Ring" sowie der "Kartei der Not" unserer Zeitung geholfen wird. Sogar das staatliche Versorgungsamt reagierte auf Noras gewaltsamen Tod unbürokratisch schnell. Mutter wie Vater bekommen bereits eine Opferrente von monatlich 119 Euro ausbezahlt. Und dies, obwohl der Mörder der 18-Jährigen noch nicht rechtskräftig verurteilt ist. Grundlage hierfür ist das Opferentschädigungsgesetz.
Familie B. kann das Geld gut gebrauchen. Roswitha B. war bislang im Service für eine Supermarktkette tätig gewesen. Seit ihrem Zusammenbruch, als sie vom Tod ihrer Tochter erfuhr und der Notarzt sie ins Krankenhaus brachte, ist die 48-Jährige nicht mehr arbeitsfähig. Auch nachts findet sie kaum Ruhe. In solchen Momenten geht sie in Noras Zimmer, hält Zwiesprache mit ihr.
Auf dem Bett liegen einige Lieblingssachen ihrer Tochter ausgebreitet. Darunter ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift "mein Mausezahn". Freund Michael hatte es ihr auf dem Augsburger Plärrer geschenkt. Nora gefielen rote Rosen. Ein Wandfoto und eine auffallende Papierblume neben dem Bett verraten es. Und sie hat leidenschaftlich gern getanzt. Ihre weißen Disco-Schuhe stehen noch auf einem Blumenständer.
Irgendwann, dass wissen Roswitha und Abdelmalek B., werden sie die Kraft haben, diese Wohnung für immer zu verlassen. Sie wollen aus Haunstetten wegziehen, näher zum Grab ihrer Tochter.
Noch ist es zu früh.
Die Diskussion ist geschlossen.